Sternenfaust - 152 - Am Scheideweg (2 of 2)
Zivilisation der Widersprüche. Im Gegensatz vereint.
Moment mal.
Taugenichts sah ihn an, begriff und teilte seinen Gedanken. Ist es wirklich so simpel? , erklangen seine Worte in Johannes Geist – auch das seit Langem schon keine Seltenheit mehr.
»Es wäre möglich«, antwortete der Deutsche verbal. »Oder? Wir alle … Younes in seiner marokkanischen Heimat, ich im Stuttgart der Vierziger, du …«
»Barbarus in Ägypten«, fuhr der alt gewordene Showman fort, »Emmeline am Hof des Sonnenkönigs, Oliver in den Straßen des viktorianischen Londons …«
Sie alle waren Ausgestoßene. Johannes nickte. Sie alle hatten keinen Kontext mehr, da wo sie waren. Sie lebten im Off. Jenseits der Norm.
»Ein Volk aus Einzelnen«, murmelte Taugenichts. Für einen Moment glaubte Johannes, die so plötzliche Erkenntnis sei zu viel für den alten Mann. »Eine Gruppe von Menschen, die in ihren jeweiligen Umfeldern nicht mehr passten, die durchs Raster gefallen waren …«
»… kommt hier zusammen und wird eins«, beendete er den Satz erneut. »Wir sind Fremde unserer Zeiten und Kulturen.«
Und wir wurden zur Basis einer ganz neuen Kultur. Taugenichts sah hinaus auf die Häuser und die Weite, atmete die frische Luft des Morgens ein, lehnte sich zurück. Dann lachte er und schüttelte fassungslos den Kopf. »Wer immer uns das hier angetan hat, tat uns damit einen Gefallen, mein Freund. Wie krank ist das denn?«
Johannes lehnte sich in seinem Sitz zurück, ließ die kühle Luft um seine Nase wehen und schloss die Augen. Bilder strömten auf ihn ein – manche aus seiner eigenen Erinnerung, andere aus den Leben der Menschen, mit denen er seit Jahrzehnten diese Welt teilte. Er sah eine ägyptische Nacht voller Zweifel, eine Konzertbühne der Blamage, einen Jungen ohne Wurzeln. Er sah Menschen, die nicht da sein konnten, auf einmal erscheinen und Gewalt ausüben. Menschen, die zu Mördern wurden – oder zu Entführern.
Das war nicht Peter, damals in Marokko. Der Mann, der mir in den Gassen der Stadt begegnete, als ich vor Younes floh, kann nicht Peter gewesen sein.
Taugenichts’ Stimme drang an sein Ohr. »Genauso wenig, wie mir mein verstorbener Vater im Backstagebereich eines heruntergekommenen Casinos begegnete. Wie Barbarus von seiner ihn hassenden Gattin in der Fremde besucht wurde.«
Barbarus. Der mittlerweile verstorbene Römer hatte beschrieben, dass seine vermeintliche Gemahlin ein futuristisch wirkendes Gerät in der Hand gehalten hatte, als sie ihn holen kam. Andere Exinauten der ersten Stunde glaubten, sich an ähnliche Eindrücke zu erinnern. War das ein Schlüssel, der dieses Rätsel lösen mochte?
»Welchen Unterschied macht es noch?«, fragte Taugenichts. »Wir sind hier, oder? Wir sind, was wir wurden. Eine neue Zivilisation. Was mit uns geschah, ist unsere Schöpfung. Eine Art Urknall der Exinauten.«
Johannes öffnete die Augen, sah seinen alten Gefährten an. Jahrzehnte waren vergangen, seit er sich zuletzt mit Johnny Fontane hatte anreden lassen. Ihm zufolge war die Zeit für alte Wurzeln längst vorbei. »Da magst du recht haben«, pflichtete Johannes ihm bei. »Dennoch: ein Volk aus Einzelgängern, aus Ausgestoßenen … Die Theorie ist gut. Aber sie bleibt Theorie, fürchte ich. Sie bringt uns keinen Schritt näher an eine Erklärung.«
Taugenichts strich sich nachdenklich über das Kinn, blickte hinaus auf das Land und die Stadt unter ihnen. »Weißt du, Lichter, da bin ich mir gar nicht so sicher …«
Kapitel 8 – Schöne neue Welt?
New York
Das Lokal am Park Plaza war zum Bersten gefüllt. Von überall her, so schien es, waren sie gekommen, um diesen Abend nicht allein zu erleben – und so wie hier sah es, Medienberichten zufolge, in jeder Bar der Stadt aus. Ganz New York musste auf den Beinen sein, um mitzuerleben, worauf es so lange hingefiebert hatte. Und der Rest der Welt mit ihm.
»Jüngsten Berichten aus Taiwan zufolge haben sich mehrere Hunderttausend Menschen auf öffentlichen Plätzen und in Gemeindezentren versammelt, um auf die Ergebnisse des zentralen Wahl-Computers zu warten«, drang die Stimme der GNA -Ansagerin aus der Holo-Übertragung an Vincents Ohr, doch er hörte kaum hin. Ein erfrischendes Getränk in der Hand stand der Admiral an der Bar, umringt von den Mitarbeitern seiner Kamikaze-Wahlzentrale, und blickte in die Gesichter der Wartenden. So viel Aufregung, so viel angespanntes Warten … Hoffentlich wurden sie nicht enttäuscht.
In den letzten Wochen
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