Sternenfaust - 160 - Die Space-Oma
schreien konnte, selbst wenn man wollte.
Schlimm wurde es erst in den Sekunden danach. Wenn die Panik in einem explodierte, wenn der Körper instinktiv alles tun wollte, um diesen Schmerz abzuwehren, wenn man nur noch eins wollte: die Qual hinausschreien! Dann wurde es schlimm. Dann kamen die Tränen! Der Schmerz begann zu glühen und überschattete alles. Man konnte sich nicht mehr vorstellen, wie ein Leben ohne Schmerz überhaupt war.
»Es ist nach siebzehn Uhr«, sagte Codys Vater mit strengem Blick auf den Timer. »Gibt fünf Sekunden mehr!«
Fünf Sekunden mehr mit dem Dolorator bekam Cody jeden Tag. Fünfzehn Sekunden. Das war machbar. Vielleicht stöhnte er währenddessen noch einmal auf, vielleicht kam über seine Lippen ein leises Wimmern, und das würde ihm noch einmal fünf Sekunden bringen, doch das war es dann.
Vorsichtig schenkte sich Cody etwas von dem Wasser ein, das in einer Karaffe auf dem Tisch stand. Das Wassereinschenken war kritisch. Wenn er etwas verschüttete, gab es wegen Tollpatschigkeit fünf Sekunden. Wenn er es zu langsam tat, gab es zehn Sekunden.
Es klappte jedoch auf Anhieb und Cody stellte die Karaffe wieder ab. Dann wartete er, bis Vater sagte, er könne anfangen. Vorher anzufangen konnte verheerend enden.
»Wie war die Schule?«
Cody wusste genau, dass Vater bereits im Tagesprotokoll nachgesehen hatte. Über das Daten-Center der Schule konnten sich die Eltern jederzeit über die Noten und sonstigen Beurteilungen ihrer Kinder informieren. Störungen im Unterricht, schlecht erledigte Hausaufgaben, Testergebnisse, mündliche Mitarbeit … Alles gab der Lehrer noch während des Unterrichts über ein Daten-Pad ein.
Heute hatte es einen Hundertmeterlauf gegeben. Cody war schlecht gestartet. Das hatte seinen Gegnern einen Vorsprung verschafft. Der ein Jahr ältere Andy war – vor allem auf kurzen Strecken – besser als Cody. Das Ergebnis: Cody war als Zweiter durchs Ziel gegangen.
»Zweiter beim Hundertmeterlauf«, stellte Vater grimmig fest.
Cody überlegte einen Moment, ob er sich rechtfertigen sollte. Rechtfertigungen machten seinen Vater normalerweise wütend. Doch er wurde er noch wütender, wenn Cody schwieg. Also versuchte er, es nicht wie eine Entschuldigung klingen zu lassen, als er sagte: »Hatte einen schlechten Start.«
»Soso, einen schlechten Start«, erwiderte Vater, und Cody wusste sofort, dass er mit dieser Erklärung einen Fehler gemacht hatte. »Du sagst das, als wäre ein schlechter Start eine Bagatelle. Ich denke, wir haben heute mit dem Dolorator auch einen schlechten Start. Wir beginnen, die Zeit erst nach zehn Sekunden zu messen. Vielleicht lernst du dann, dass es nichts Schlimmeres im Leben gibt als einen schlechten Start.«
Cody senkte ein wenig den Kopf. Seine Haare hingen ihm sofort ins Gesicht.
»Immerhin –«, meinte sein Vater schnippisch, »einhundert Punkte in Quantentheorie.«
Cody nickte. Es war kein Grund zur Freude. So, wie es sein Vater gesagt hatte, bedeutete es nichts Gutes.
»Warum erzählst du nichts davon?«
Wieder eine Falle. Darauf gab es keine richtige Antwort. Hätte er davon erzählt, hätte ihn sein Vater dafür bestraft, mit Selbstverständlichkeiten zu protzen. »Wie willst du je im Leben Anerkennung finden, wenn du mit deinen Leistungen hinter dem Berg hältst?«
Weitere fünf Sekunden , ging es Cody durch den Kopf. Jetzt hatte er ein Problem. Er näherte sich der 30-Sekunden-Marke. Nach dreißig Sekunden verlor man die Kontrolle. Man glaubte, innerlich zu zerbrechen, die Qual presste die Luft aus dem Körper; dann kamen die Schreie und das Weinen. Am Ende brüllte ihn Vater an, er solle die Kontrolle zurück erkämpfen, und vergaß dabei sogar, die Zeit zu messen. Im allerschlimmsten Fall wiederholte er die Prozedur am selben Abend.
Nun musste Cody aufpassen. Er durfte nicht zu achtlos essen, nicht zu langsam kauen, nicht zu schnell schlucken, nur ja nichts verschütten, nicht husten, nicht zittern, sich nicht strecken, sich nicht zu spät den Mund abwischen … All das führte zu weiteren Zusatzsekunden.
Es war nicht so, dass Vater den Dolorator an einem geheimen Ort aufbewahrte. Im Gegenteil. Das Gerät lag im Korridor, direkt hinter der Wohnungstür auf der Kommode. Wie ein Sammlerstück. Oder ein Schmuckstück. Niemand, der Vater einen Besuch abstattete, stellte auch nur eine einzige Frage danach. Niemand wäre auch nur im Traum auf die Idee gekommen, was sich hinter diesem kleinen, gläsernen Gegenstand
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