Sternenfeuer: Gefährliche Lügen
schwach, dass er zur Seite fiel und einfach japsend liegen blieb.
Kieran zog Sealy Max vor, denn Sealy war einfach nur feindselig und mürrisch – Max hingegen war grausam. Kierans liebster Platz war an der Steuerbordwand, denn von dort konnte er den Spiegel sehen. Er konnte auf das Glas starren und sich vorstellen, dass es ein echtes Fenster zu einem anderen Raum wäre. Merkwürdig, wie ihn diese Dinge auf gewisse Weise beruhigten. Wie klein seine Welt geworden war.
»Sarek hat nach dir gefragt«, sagte Sealy beiläufig.
»Was hast du ihm erzählt?«
»Ich hab gesagt, dass du dünn aussiehst.«
Kieran nahm es mit einem düsteren Seufzen zur Kenntnis. Also wollte er ihn nur aufziehen.
»Er hat mir gesagt, ich soll dich grüßen«, fügte Sealy mit einem merkwürdigen Tonfall hinzu.
Das schien so vollkommen normal zu sein, so komplett aus dem Kontext gerissen, dass Kieran den Blick hob, um in das Gesicht des anderen Jungen zu schauen. Sealys Ausdruck verriet nichts. Machte er gerade eine Art Angebot?
»Tja, dann … sag ihm …« Kierans Gedanken rasten. Was sollte er sagen? Er versuchte sich an seinen ersten Tag hier zu erinnern, damals, als er noch nicht wusste, was Hunger war. Er hatte eine gute Idee gehabt. Eine Idee, wie er hier herauskommen könnte. Was für eine Idee war das gewesen?
Er ballte die Faust und schloss die Augen.
Verhandlung.
Das Wort brachte seinen Geist in Fahrt. Ja. »Sag Sarek, dass er und der Rest der Jungen eine Verhandlung für mich verlangen sollen.«
»Guter Scherz. Seth wird sich köstlich amüsieren.«
»Sie sollen sagen, sie wollen meine Verbrechen offengelegt haben.«
»Klar«, spottete Sealy. »Darauf fällt Seth garantiert herein. Weil er dumm ist, korrekt?« Er schüttelte den Kopf. »Seth wird mich umbringen.«
Kieran wedelte Sealys Worte fort, als wären sie ein Fliegenschwarm. Es war ihm egal, was Seth Sealy vielleicht antat. Er verhungerte. Er musste hier raus.
Verhandlung
K ieran schlief. Seit seiner Unterhaltung mit Sealy und seinem Versuch, sich an die Außenwelt zu wenden, hatten sich die Tage hingezogen wie eine Wüste zum Horizont. Er ertrug gelegentliche Drohungen von Max und Besuche von Seth, der fragte, ob er bereit wäre zu gestehen, aber meistens gab es nicht mehr zu tun, als nachzudenken. Er dachte über Waverly nach. Er dachte über seine Eltern nach. Manchmal konnte er sich beinahe selbst überzeugen, dass sie auf dem Weg nach Hause waren und er sie bald sehen würde.
Er sprach mit ihnen in Gedanken. Er erzählte ihnen, was er vorhatte, sobald er hier einmal raus war. Er bat sie um Ratschläge. Und manchmal hörte er zu. Manchmal glaubte er, dass das, was er hörte, keine Einbildung war. Einige Nachrichten kamen zu ihm mit einer Stimme, die wie eine ferne Glocke in seinem Geist erklang.
Schon bald hörte sich die Stimme nicht mehr an wie die seines Vaters oder seiner Mutter oder Waverlys oder von irgendjemandem, den er kannte. Die Stimme war eigenständig.
Eines Nachts, als er den Tod in der Ecke seiner stinkenden Zelle schweben spürte, griff er zu ihr hinaus.
Lass mich hier raus,
flehte er lautlos.
Ich will nicht sterben.
Du sollst befreit werden,
antwortete die Stimme.
Diesmal dachte er, er hätte sie mit den Ohren gehört, nicht nur in seinem Kopf. War jemand hier? Er öffnete die Augen und blickte an die Decke über seiner Pritsche. Er hörte Atemgeräusche von links und sah dort Max Brent mit seinem Gewehr auf den Knien sitzen und dösen. Es war nicht Max’ Stimme gewesen. Es konnte nicht Max’ Stimme gewesen sein.
Kieran fragte sich, ob er halluzinierte, aber in Wahrheit fühlte er sich so klar wie schon seit vielen Tagen nicht mehr. Wieder schloss er die Augen.
Wann?,
fragte er.
Wenn es Zeit wird.
Die Stimme kam aus dem Raum zwischen seinem Ohr und seinem Hirn, dort, wo Geräusch zu Bedeutung wurde.
Aber wieso muss ich hier so lange ausharren?
Es liegt ein Zweck im Leiden.
Welcher Zweck? Wer bist du?
Ich bin.
Ich gebe dir mein Leben, wenn du mir hilfst.
Ich helfe dir bereits.
Kieran dachte, dass das vielleicht wahr war, und fühlte sich ermutigt.
Sealy schmuggelte auch weiterhin Brot und Trinkbeutel mit Brühe hinein. Vierundzwanzig Mahlzeiten und eine Woche hungern – damit war Kieran klar, dass er ungefähr einen Monat unter Arrest stand. Die Mahlzeiten hielten ihn am Leben, aber es war nicht genug; er hungerte immer noch und war immer noch sehr schwach. Seine Krämpfe schienen immer schlimmer zu werden, seine
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