Sternenkinder
erwog, die dicke Luftschicht mit NATO-Robotern oder gentechnisch hergestellten Lebensformen zu besäen und das nutzlose Kohlendioxid mithilfe der Sonnenenergie in nützlichen Kohlenstoff und Sauerstoff aufzuspalten. Prima! Aber es gab so viel Luft, dass man am Schluss einen Planeten mit einer hundert Meter dicken Grafitschicht gehabt hätte – und reinem Sauerstoff für ungefähr sechzig Atmosphären. Jeder Mensch, der dumm genug gewesen wäre, an die Oberfläche hinauszutreten, wäre im Nu verbrannt!
Dann gab es noch Vorschläge, sofortige radikale Veränderungen im großen Maßstab herbeizuführen, nämlich diese lästige Luftdecke komplett wegzusprengen, mit Bomben oder sogar Asteroideneinschlägen. Zum Glück hatte jemand eine intelligentere Idee.«
Man erkannte, dass Kohlenstoff sogar ein äußerst nützliches Element war – und dass die Venusluft das größte Kohlenstofflager im inneren Planetensystem enthielt, größer als das aller Asteroiden zusammen. Es wäre eine kriminelle Verschwendung gewesen, es wegzusprengen. Also heckte man einen neuen Plan aus, und der Planet wurde mit einer anderen Art genmanipulierter Organismen besät.
»Sie trieben in der dicken Wolkenschicht«, sagte Nilis, »Kleinstlebewesen, die in säurehaltigem Wasser lebten und sich durch Fotosynthese ernährten. Und sie produzierten Schalen aus Kohlendioxid – oder vielmehr aus Kohlendioxid-Polymeren, C-O-Zwei-Molekülen, die in komplexen Gittern zusammenklebten.« Die Nanotechnik, die es diesen genmanipulierten Kleinstlebewesen ermöglichte, ihre Schalen zu erzeugen, beruhte auf der Technologie einer schon längst assimilierten außerirdischen Spezies namens Khorte. »Es war eine der ersten Anwendungen einer außerirdischen Technologie im Sol-System«, sagte Nilis. »Und es hat funktioniert. Als die kleinen Biester starben, waren ihre Schalen so schwer, dass sie aus den Wolken zum Boden hinuntersanken und ein oder zwei Gramm Kohlendioxid in fester Form mitnahmen.«
Pirius verstand. »Der Kohlenstoff kam als Schnee herunter.«
»Ja. Und auf dem Boden wurde er von seinem eigenen Gewicht komprimiert. Er schmolz und amalgamierte, und es entstanden noch kompliziertere Polymere. Die Leute, die das Zeug abbauen, nennen es Kreide; etwas Ähnliches bildet sich auf dem Grund der Erdmeere.
Es war ein sehr langfristiges Unternehmen, eines der ersten Mega-Projekte der Menschheit. Aber die Kosten hielten sich in Grenzen; man musste nur für die erste Generation genmanipulierter Kleinstlebewesen bezahlen. Das Projekt läuft nun seit zwanzigtausend Jahren – mindestens so lange; man glaubt, dass es von den Alten noch in der Zeit vor der Qax-Besatzung begründet wurde.«
Sobald der Kohlenstoff der Venus in der praktischen Form der Kreide gebunden war, ließ er sich mühelos abbauen und hatte unzählige Verwendungszwecke. Allerdings habe man erst ein paar tausend Jahre nach Beginn des Projekts eine unerwartet nützliche Anwendungsmöglichkeit der neuen Venuskruste aus Kohlendioxid-Polymeren entdeckt, sagte Nilis. »Wie sich herausstellte, besaßen einige der Strukturen, die sich in den heißen, komprimierten Schichten der Venuskreide gebildet hatten, wirklich sehr interessante Eigenschaften.«
Pirius wagte einen Schuss ins Blaue. »Sie sprechen von Neutrinos.«
»Ja.«
Neutrinos waren exotische subatomare Partikel. Sie wanderten wie Geister durch Materie, durch Pirius’ eigenen Leib, ja sogar durch den massigen Körper einer Welt wie der Venus, und merkten dabei kaum, dass ihnen etwas im Weg war. »Deshalb sind sie auch so schwer zu beobachten«, sagte Nilis.
Hier kam nun die Venuskreide ins Spiel. Man fand heraus, dass einige der exotischeren Polymere, die sich bei hoher Temperatur und unter hohem Druck in den wachsenden Kreideschichten der Venus bildeten, gute Neutrinofänger waren – oder vielmehr die Spuren der Neutrinos bewahrten.
Neutrinos waren an nuklearen Reaktionen beteiligt: wenn Atomkerne sich spalteten oder verschmolzen und dabei Ströme von Energie freisetzten. Nilis sagte: »In der Natur gibt es nur einen Zeitpunkt und einen Ort, wo solche Reaktionen alltäglich sind. Einmal in den ersten paar Minuten der Entstehung des Universums selbst – in den Augenblicken der Nukleosynthese, als sich primordiale baryonische Partikel, Protonen und Neutronen, vereinigten und die ersten komplexen Nuklei bildeten. Und dann im Mittelpunkt der Sterne, die von Fusionsenergie am Leben erhalten werden. Du siehst also, ein Neutrino-Teleskop
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