Sternenkinder
an die alte Eismine auf Callisto und dann, tiefer in der Vergangenheit, an die kleinen Welten der Bogen-Basis, die Schlafsäle, Torecs weiche Wärme. Es kostete ihn Mühe, als dehnten sich die kurzen Momente seiner Anwesenheit hier bereits aus, um sein Leben zu füllen.
Immerhin war er nur eine Repräsentation von jemand anderem, rief er sich ins Gedächtnis. Er war nicht real, und dieses verlorene Leben war nicht seines gewesen. Seine Furcht verebbte.
Luru hatte ihn gewarnt, dass er sich hier verlieren könnte. Vielleicht war der Verlust seiner Furcht die erste Phase dieses Prozesses. Aber real oder nicht, er musste seine Pflicht tun; das war durchaus real.
Tief im Innern des graugrünen Gewirrs raschelte es. Er blickte erstaunt auf. Zwei Augen schauten ihn an – menschliche Augen? Dann ein weiteres Rascheln, die Blätter erzitterten, als hätte sie eine Brise erfasst, und die Augen waren verschwunden.
Er stürzte sich in die Vegetation. »Warte«, rief er. »Warte!« Er musste das Rankengewirr mit brutaler Gewalt beiseite zerren, kam aber trotzdem kaum vorwärts.
Vor ihm war ein Gesicht. Zwei leuchtende Augen, die aus grünem Halbdunkel spähten. Erschrocken blieb er stehen. Zuerst ergab es für ihn keinen Sinn. Er sah Augen, eine Nase, einen Mund. Aber die Proportionen wirkten falsch – die Augen standen zu eng beieinander, der Mund war zu groß. Dann veränderte es sich, als vermischte sich ein Gesicht mit einem anderen, oder als würde ein virtuelles Bild gestört. Aber die Augen blieben bestehen; sie starrten ihn unverwandt an. War dies womöglich ein Überbleibsel eines Jasofts, der auf der Flucht vor der Koalition hierher gekommen war?
Und war es ein Vorgeschmack auf sein eigenes Schicksal?
»Hilf mir«, sagte er. Es kam als ein Flüstern heraus, und er versuchte es erneut. »Hilf mir…«
Die Menschheit ist in Gefahr. Wir müssen den Hauptradianten der Xeelee angreifen. Wir suchen nach einer Möglichkeit, ein supermassives schwarzes Loch zu beschädigen.
Es schien absurd. Welche Rolle konnten solche Dinge hier spielen? Was bedeutete schon ein Krieg an einem Ort, wo eine Hand voll Sandkörner eine Million möglicher Momente enthielt? Was bedeuteten hier Leben oder Tod? Und dennoch erinnerte er sich an seine Pflicht; er versuchte, mit diesem monströsen, sich verändernden Gesicht zu sprechen. »Wenn noch etwas von dem Menschen in dir übrig ist, musst du mir antworten…«
Eine Faust krachte mit unglaublicher Wucht in sein Gesicht. Er spürte, wie seine Nase unter dem Aufprall brach. Und etwas wurde ihm so brutal in den Mund gerammt, dass seine Wangenmuskeln zerrissen.
Der Schlag schleuderte ihn zurück, hinaus aus dem Buschwerk. Sein zusammengekrümmter Körper durchbrach das Gewirr der Kausalität. Er landete auf dem Strand und blieb lang ausgestreckt im Realitätsstaub liegen. Seine Hand brannte, als hätte er sie ins Feuer gehalten. Der Schmerz lenkte ihn sogar davon ab, wie weh sein zertrümmertes Gesicht tat, wie bitter das Zeug in seinem Mund schmeckte. Der schwarze Ozean plätscherte ganz in seiner Nähe, viel höher am Strand als zuvor. Gezeiten, dachte er. Gravitationseffekte aus zweiter Hand, die auf offene Wasserkörper wirkten. Bruchstücke von Fakten aus seiner Ausbildung, aus einem verlorenen Leben.
Er hob den Arm. Seine Hand war verschwunden. Ein hübscher Film rosafarbener Haut überzog den Stumpf, als hätte die Hand nie existiert. Das schwarze Zeug war kein Wasser. Es musste ihm die Hand weggebrannt haben wie eine superstarke Säure. Es sah zwar vielleicht hübsch aus, aber die Schmerzen waren unerträglich.
Kausalität, dachte er. Entropie. Das bedeutet das Meer, so hat Luru Parz es gesagt. Ich werde von einem Meer der Entropie gefressen, werde in Unordnung aufgelöst.
Mit einer Willensanstrengung rollte er sich herum, weg von dem Ozean. Ein stechender Schmerz schoss ihm durch den Arm.
Das Zeug in seinem Mund verlagerte sich und verschloss ihm die Atemwege. Er konnte ersticken, während er hier lag. Vielleicht erwies sich auch der Schlag selbst als tödlich. Er erinnerte sich daran, dass es möglich war, Menschen auf diese Weise zu töten; man rammte seinem Gegner die Stirn von unten gegen die Nase, um ihm einen Knochensplitter ins Gehirn zu treiben.
Er würde hier sterben. Aber er war nur ein Virtueller – nicht Pirius, weder Pirius Rot noch Pirius Blau. Er war Pirius Grau, dachte er, Pirius der Schatten. Es spielte keine Rolle, ob er starb.
Sein Mund arbeitete.
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