Sternenlaeufer
konnte.
»Ich habe dich vermisst«, erklärte sie plötzlich. »Das hätte ich nicht gedacht.«
Ihre Worte überraschten ihn, aber er blieb auf der Hut. »Wo ist Ruval?«
»Hält Wache. Komm und setz dich zu mir.«
Es war jetzt ganz dunkel. Der Regen war zu einem Sprühnebel geworden, der einen Schleier auf ihr ergrauendes Haar legte, als sie die Kapuze zurückschob. Im Licht der Laterne auf der anderen Straßenseite konnte er jede Linie in ihrem Gesicht sehen. Sie war in der erwartungsvollen Anspannung gealtert. Er kannte das Gefühl.
»Es ist an der Zeit, die Legitimität deines Bruders zu beweisen«, fing Mireva übergangslos an.
Marron hatte gewusst, dass das kommen würde. Als Bastard geboren zu sein, war als solches kein Makel, denn uneheliche Nachkommen teilten das Erbe mit den ehelichen, aber Roelstra hatte eine so große Zahl nichtehelicher Töchter gezeugt, dass die Sitte, außerhalb einer Ehe Kinder zu zeugen, aus der Mode gekommen war. Daher war es inzwischen so, dass legitime Erben den Vorrang hatten. Rohans Vater hatte diesen Trend in mancher Hinsicht verstärkt, indem er seiner geliebten Gemahlin skandalös treu geblieben war. Es war eine närrische Haltung, denn die meisten Frauen brachten nur drei oder vier Kinder zur Welt. Diejenigen, die fünf Kinder empfingen und überlebten, um davon zu erzählen, waren selten; und niemand hatte je von einer Frau gehört, die mehr als sechs Kinder geboren hatte. Fruchtbarkeit war begehrt, und Frauen, die Zwillinge bekamen wie Prinzessin Tobin, wurden hoch verehrt. Es war nur vernünftig, so viele Erben wie möglich zu bekommen, denn schließlich war es gefährlich, nur einen Sohn zu haben, wie Prinz Chale von Ossetia vor Jahren erfahren musste, als der seine starb.
»Chianas Sohn ist legitim, er ist ein Prinz«, fuhr Mireva fort. »Aber sie wurde einst unter spektakulären Umständen als Bastard geboren.« Ein Lächeln zeigte sich ganz kurz auf ihren Lippen. »Stell dir das vor – sie war verzweifelt bemüht, sich überhaupt als Bastard zu beweisen! Ianthe hingegen war die Tochter von Roelstras Gemahlin. Wenn wir von Lord Chelan selbst den Beweis bekommen, dass er und Ianthe verheiratet waren …«
»Ich habe mich erkundigt, als du im letzten Winter danach gefragt hast«, unterbrach er sie. »Er hat in einem Herrenhaus an der Syrener Grenze gelebt.«
In ihren Augen funkelten silbrige Lichter. »Gelebt?«
»Er ist dort diesen Sommer gestorben und verbrannt worden. Eine zehrende Krankheit, sagt man.«
»Verdammt soll er sein, dass er gestorben ist.«
Ehe sie bekam, was sie haben wollte, so dass sie ihn dann selbst hätte töten können, dachte Marron. Aber er schwieg.
Mireva holte tief Luft und zwang sich zu Gelassenheit. »Es ist meine eigene Schuld, weil ich mich nicht eher darum gekümmert habe.«
»Wenn du es getan hättest, wäre man auf ihn aufmerksam geworden, und dann hätten wir ihn im Nacken gehabt.«
»Das ist wahr.« Sie seufzte.
»Ruval muss es eben ohne das schaffen«, sagte er ein bisschen wütender, als er beabsichtigt hatte. Sie fixierte ihn mit einem kalten Blick. »Ich weiß, ich hätte es dir auf dem Sternenlicht berichten sollen. Aber ihr seid beide so viel gereist, durch Cunaxa und die ganze Prinzenmark, da war es unmöglich, euch zu finden.«
»Außerdem warst du darin noch nie sehr gut«, fuhr sie ihn an. »Bist du denn inzwischen gut genug in der Palastpolitik, um mich zu Chiana zu bringen? Heute Abend?«
»Heute Abend …« Marron schluckte krampfhaft. »Was hast du mit ihr vor?«
»Was glaubst du wohl?«, gab sie zurück.
»Du hast keine Ahnung von Chiana. Sie ist – ein harter Brocken.« Er erklärte, wie es ihm gelungen war, sie in Richtungen zu drängen, die sie im Sinn gehabt hatte – zum Beispiel. Halians Schwester Gennadi als Herrscherin von Waes abzusetzen und stattdessen wieder Lord Geir einzusetzen. Wenn der junge Mann Halians Vater auch wegen der Hinrichtung seiner Eltern hasste, so lebte er doch, und das zählte. Aus dieser Tatsache war in den gierigen kleinen Händen seiner Tante ein weiterer Faden von Macht geworden. »Aber sie muss immer glauben, dass es sich um ihre eigene Idee handelt. Der geringste Hinweis, dass man versucht, sie zu beeinflussen, und …«
»Trau mir da ruhig ein wenig Geschick zu, mein Junge.«
»Nun, sie hat das nicht«, erklärte er rundheraus. »Sie begehrt die Felsenburg, wie manche Leute Wein brauchen. Sie ist die einzige von Roelstras Töchtern, die nicht dort geboren wurde
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