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Sternenschatten

Sternenschatten

Titel: Sternenschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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einem fort, murmelte ohne jede Intonation, vom Gesang zu breiigen Klagen übergehend.
    »Kalt … verflucht … kalt …«
    Für Menschen, die mit sich selbst sprechen, habe ich immer eine irritierende, mit Mitleid vermischte Sympathie empfunden. Wenn du mit deinem Leben zufrieden bist, suchst du den Gesprächspartner nicht in dir selbst, denn dieser Gesprächspartner ist zu schrecklich, zu unerbittlich.
    Es folgte ein leises Knistern, als wickle jemand etwas aus in der Kälte steif gewordener Plastikfolie aus. Dann Geschnaufe, bevor der Mann in sein gefrorenes Essen biss. Danach wieder Geschnaufe.
    Ich näherte mich ihm langsam von hinten. Als mich nur noch ein Schritt von ihm trennte, bemerkte ich das funkelnde Metall. Auf den Knien des ausgehungerten Sangesburschen lag eine Waffe, eine kurzläufige MPi. Ich erstarrte.
    Ein Wachtposten. Es war nur ein Wachtposten.
    Wäre es ein Wendiger Freund gewesen, wäre alles einfacher gewesen. Wesentlich einfacher. Wenn er schweigend dagesessen hätte oder auf und ab patrouilliert wäre, dann wäre es ebenfalls einfacher gewesen. Aber so … Von hinten über einen unbekannten Mann herfallen, der in unbequeme Kleidung gemummelt war und leise an einem Stück gefrorenen fetten Fleischs nagte, das wollte ich nicht.
    Ich holte aus, zögerte dann aber. Hier stirbt ja niemand für immer. Das durfte ich nie vergessen. Und genau deshalb durfte ich das nicht tun, denn es würde alles rechtfertigen, alles, was man sich nur vorstellen kann, denn gerade das war das schrecklichste Geschenk der Tore: dass hier alles erlaubt war. Andererseits musste ich es tun, denn ich musste ja weitergehen …
    Der Posten drehte sich um. Ich konnte gerade noch das erstaunte, grobe Gesicht erkennen, den Mund, der sich zu einem Schrei öffnete – dann schlug ich zu. Die Pelzmütze minderte die Wucht des Schlags zwar, aber entweder hatte ich mich gewaltig ins Zeug gelegt oder mein Gegner war ein ausgesprochener Schwächling. Jedenfalls brach der Posten im Schnee zusammen, ohne noch ein Wort herauszubringen.
    »Wünsche angenehme Träume«, flüsterte ich, während ich die MP an mich nahm. »Träume ruhig von einer anderen Welt … einer warmen, zärtlichen Welt … und begib dich dorthin.«
    Nach etwa zehn Schritt stieß ich auf einen Stacheldrahtzaun. Fünf Stränge, an denen Schnee klebte und die deswegen an eine Neu Jahrsgirlande erinnerten.
    »An die Arbeit, Symbiont!«, befahl ich. »Abrechnen werden wir im Jenseits …«
    Sobald meine Finger eine schwarze, glänzende Kruste überzog, berührte ich das eisige Metall und zerknipste einen Strang nach dem nächsten.
    Nur gut, dass der Zaun nicht unter Strom stand. Und dass es keine Sender gab. Alles war so primitiv, dass es mich fast anekelte.
    Glaubst du, dass du an den richtigen Ort gekommen bist?, fragte der Cualcua.
    »Ja.«
    Ich stiefelte durch die Schneewehen, aber wenigstens gab es hier Trampelpfade. Irgendwann fiel mir eine Einzelheit auf, die diesen Ort von den Sanatorien der Geometer unterschied. Ein Stück weiter, jenseits des Stacheldrahtes, ragten Fabrikgebäude auf. Die typischen Umrisse, der aus Schornsteinen aufsteigende Rauch, das schwache Sonnenlicht, das sich in den großen Fenstern spiegelte. Nein, wahrscheinlich beschäftigte man sich hier nicht mit der Begradigung der Uferlinie und zählte auch keine Erbsen.
    Ich ging auf gut Glück weiter, ohne mich um Deckung zu kümmern. Vermutlich hatte man mich sowieso schon von den Wachtürmen aus entdeckt, mich allerdings nicht für einen Fremden gehalten.
    Es war Tag. Und das war schlecht. Man würde arbeiten. Und ich wollte weiß Gott nicht alle Fabriken abklappern. Sonst würde ich mir am Ende noch eine Kugel einfangen. Die Möglichkeiten des Cualcua waren schließlich auch begrenzt, und der Eifer, der mich durch das Tor gebracht hatte, konnte wieder versiegen. Allerdings arbeitete man hier wohl rund um die Uhr …
    Ich betrat die erstbeste Baracke. Eine Wache machte ich nicht aus. Drinnen war es warm, gelbe Lampen spendeten ein trübes Licht. Es stank. Und zwar ausgesprochen heftig, nach ungewaschenen Körpern, Tabak und Feuer, ein schwerer Geruch, fast wie verbranntes Masut; das Ganze ließ an einen Eisenbahnhof denken.
    Mit zur Decke gerichteter MPi stand ich kurz da. Aus einem Etagenbett aus rohem, dreckgeschwärztem Holz drang ein gleichmäßiges, monotones Schnarchen herüber.
    Wie ähnlich sich doch Waffen sind, in allen Welten.
    Ich zog den Abzug durch, und ein Feuerstreifen schlug

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