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Sternenschatten

Sternenschatten

Titel: Sternenschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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haben oder …
    Was ist mit dir?
    Er schwieg. Meine Hand zitterte, während der Symbiont aß. Wahrscheinlich saß der größte Teil seines Körpers gerade in meiner Hand.
    Aber das dürfte ihn eigentlich nicht am Sprechen hindern!
    »Sitze ich am Essenstisch bin ich stumm wie ein Fisch … He, mein Freund, für dich gelten diese Kinderregeln doch nicht!«, sagte ich laut.
    Ich bin in Ordnung.
    Du lügst.
    Der Cualcua hüllte sich in Schweigen.
    Der Traum jedes Schizophrenen ist es, mit sich selbst zu sprechen. Aber ich hatte nicht die Absicht, auf eine Antwort zu verzichten!
    Ich habe Angst …
    Die Stimme in meinem Bewusstsein war leise, kaum zu hören. Ein Flüstern nur.
    Was?
    Ich habe Angst!
    Ich löste die Hand vom tadellos sauberen Boden, richtete mich auf und schaute in den Spiegel. Ob mich jemand auf der anderen Seite des Spiegels beobachtete? Quatsch. Das war nun mit Sicherheit völliger Quatsch.
    Wovor hast du Angst, Cualcua?, fragte ich ihn so zärtlich, als spreche ich mit einem Kind. Du fürchtest dich doch nicht einmal vor dem Tod. Oder …
    Meine Ahnung schien beängstigend wahrscheinlich!
    Du hast die Verbindung zu deiner Rasse verloren? Du bist jetzt allein?
    Was für ein Schock das für ihn gewesen sein musste! Er, ein Teil eines Ganzen, war plötzlich völlig von der Welt abgeschnitten!
    Ich brauche dein Mitleid nicht. Du irrst dich sowieso. Wenn ein Teil autonom wird, dann kann er den Verstand nicht bewahren und stirbt. Und du stirbst dann ebenfalls.
    Mein Mitleid wich sofort Panik und Hass. Dergleichen hielt der Cualcua für möglich? Und was, wenn er bei unserem Flug zum Kern die Verbindung zu seinem Ganzen verloren hätte? Hätte er, eine wahnsinnig gewordene Amöbe, meinen Körper dann von innen getötet?
    Ja. Verzeih. Aber die Wahrscheinlichkeit für diese Wendung der Dinge ist eigentlich minimal. Das, was mich zu einem Ganzen verbindet, lässt sich nicht abschirmen.
    Ich ertappte mich dabei, dass ich mir meine gekrümmten Finger in die Brust bohrte, bis es schmerzte. Ich musste diesen Klumpen fremden Fleischs finden, ertasten, zerreißen …
    Beruhige dich!
    »Was ist es denn? Wovor hast du Angst?«, schrie ich. »Los, sag’s mir! Ich habe das Recht, das zu erfahren!«
    Das Tor.
    Ich schwieg. Offenbar hatte er sich entschlossen, die Karten auf den Tisch zu legen. Mein Herz hämmerte wie wild.
    Als wir durch das Tor gegangen sind … Das war ein Fehler.
    Warum?
    Ich …
    Eine Pause. Dieses nahezu allmächtige Wesen würde doch wohl keine Schwierigkeiten haben, mir etwas zu erklären? Bei dem ungeheuren Wissen, das ihm zur Verfügung stand und von dem andere Rassen nicht einmal zu träumen wagen durften. Außerdem könnte er mich so geschickt anlügen, dass ich ihm niemals auf die Schliche kommen würde. Wir standen nämlich nicht einfach auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen – zwischen uns klaffte ein unvorstellbarer Abgrund.
    Ich werde dich nicht anlügen. Ich lüge nie. Entweder schweige ich oder ich rede. Ich habe Schwierigkeiten mit der Wortwahl.
    »Gib dir Mühe«, bat ich. »Ich werde es auch tun.«
    Als du durch das Tor gegangen bist, bist du nicht nur im Raum verschoben worden, wie es bei der Rasse der Geometer geschehen ist.
    »Verstehe.«
    Das war … ich habe dich gewarnt, ich habe Schwierigkeiten, das richtige Wort zu finden. Als du da durchgegangen bist, war das eine Erfassung. Etwas hat dich erfasst. So kann man es wohl sagen …
    Mich überwältigte ein Gefühl, das sich mit nichts vergleichen ließ. Als ob ich einen Schrei ausstoßen würde, ein lautloses Klagen, das alles in sich aufnahm, angefangen von vagen Kindheitserinnerungen bis hin zur Rasur mit der Hilfe des Cualcua. Plötzlich erinnerte ich mich an Dinge, die jener barmherzige Schuft, mein Gedächtnis, vor langer Zeit vor mir versteckt hatte. An Dinge, an die ich mich gern erinnerte. Und auch an manches, das ich lieber vergessen wollte …
    Ich fiel zu Boden, schlug mir schmerzhaft die Knie auf und saugte gierig Luft ein. Nein …

Zwei
     
    Alles ist groß. Sehr groß. Eine Welt für Riesen. Und einer von ihnen steht über mir und streckt mir die Arme entgegen.
    »Kommst du mit mir?«
    Ich glaube, ich denke nach. Ich kann kaum sagen, worüber, denn mit meinen Gedanken stimmt etwas nicht, sie sind nicht wie sonst, ich denke nämlich nicht in Worten, sondern in Bildern, in Brocken von klaren und einfachen Gefühlen. Ich glaube, ich möchte mitgehen. Sehr gern sogar. So gern, dass ich am liebsten weinen würde.

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