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Sternenschatten

Sternenschatten

Titel: Sternenschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Aber ich habe Angst, es zu sagen. Oder ich schäme mich. Deshalb suche ich zu einer einfachen Geste Zuflucht: Mit einer Hand fasse ich nach der mir entgegenstreckten Hand, mit der anderen nach dem Bein der Frau im Kittel, die neben mir steht. Sie hat ein faltiges, altes Gesicht, in ihren Augen schimmern Tränen, trotzdem lächelt sie. Als freue sie sich für mich. Sie ist gut, ich habe sie sehr lieb. Aber noch lieber möchte ich mit dem Mann mitgehen, der mir die Hand entgegenstreckt. Und ich werde auch mit ihm mitgehen, das steht fest. Wenn die Großen sich etwas in den Kopf setzen, dann kann man weinen oder sich verstecken, aber sie kriegen trotzdem ihren Willen. So ist es immer …
    Der Fußboden hier schien ebenfalls aus Papier zu bestehen. Trotzdem ist er kalt … und hart …
    Wie jung du damals warst, Großpapa. Wenn ich heute an dich denke, dann sehe ich einen ganz anderen Mann vor mir. Wie unglaublich du abgebaut hast. Ob daran jener kleine Junge schuld war, den du dir im Alter von sechzig Jahren aufgehalst hast?
    »Im April 1661 sind zwei Jesuiten, der Österreicher Johann Grueber und der Belgier Albert D’Orville, auf dem Landweg mit einem Geheimauftrag von Peking nach Rom aufgebrochen …«
    Das Telefon klingelt. Ohne mich von dem Buch loszureißen, lange ich danach und drücke auf den Annahme-Knopf.
    »Hallo!«
    »Pjotr?«
    Sofort wummert mein Herz los.
    »Romka?«
    »Hmm. Was machst du gerade?«
    Ich setze mich im Sessel im Schneidersitz hin. Das Buch schiebe ich beiseite.
    »Nichts. Ich lese.«
    »Und? Ist es interessant?«, fragt Romka nach kurzem Schweigen.
    »Ja. Ein Buch übers Reisen.«
    Kann das ehrlich wahr sein? Ruft Romka mich tatsächlich an? Dabei hatte doch er recht, nicht ich. Also hätte ich nachgeben müssen, ihn anrufen und ihm etwas vorstammeln müssen, wobei ich möglichst vergessen sollte, dass ich die Nase meines besten – aber was heißt hier besten? Meines einzigen – Freundes! zu Brei geschlagen habe!
    »Willst du es vielleicht auch mal lesen?«, frage ich schnell. »Dann komm einfach vorbei! Wir können es auch zusammen lesen!«
    »Ich hab keine Zeit.« Romka taut etwas auf. »Also … weißt du … Danila und ich, wir wollen …« Er senkt die Stimme. »In diesen Keller gehen! Kommst du mit? Danila sagt, wir müssen drei sein.«
    Als ob er sonst niemanden anrufen könnte. Aber spielt das eine Rolle? Ich will mich ja selbst wieder mit ihm vertragen!
    »Gut! Aber morgen!«
    »Warum denn?«
    »Mein Großvater und ich haben gewettet, wer mehr über die Erforschung Tibets weiß … Ich muss noch ein paar Sachen lesen, heute Abend tragen wir unser Duell aus.«
    Ich bedauere schon, dass ich davon überhaupt angefangen habe. Und wenn ich schon gegen Großpapa verlieren würde … na und, würde er mich eben auslachen …
    »Du hast einfach Schiss«, sagt Romka plötzlich.
    Und etwas Gemeines entschlüpft mir, noch bevor ich mir auf die Zunge beißen kann: »Das musst du gerade sagen … du Heulsuse …«
    »Und du bist ein Mistkerl! Ein Feigling!«, schreit Romka. »Wir rufen jetzt Jurka an! Und du kannst bleiben, wo der Pfeffer wächst!«
    Ich werfe das piepende Telefon auf den Tisch. Anschließend schnappe ich mir das verdammte Buch und schleudere es gegen die Wand.
    Das war das Ende. Danach hatte ich keinen Freund mehr. Und sollte auch nie wieder einen haben.
    Aber deshalb musste ich mich doch nicht so herumwälzen. Und warum lag ich überhaupt auf dem Boden, in einem fremden Zimmer, auf einem fremden Planeten?
    So ist es also gekommen, Romka. Du bist mein einziger Freund gewesen. Vielleicht hat nicht mal mein Großvater was von dir gewusst. Er hätte bestimmt nicht gewollt, dass wir uns zerstreiten. Trotzdem … ist es nun mal so gekommen.
    Das ist irgendwie peinlich. Obwohl ich damit gerechnet habe. Ich habe genau gewusst, dass es beim ersten Mal nicht richtig klappt. In allen Büchern steht, dass ein Mann den Vorgang anfangs nur schlecht kontrollieren kann, er muss das erst lernen. Aber warum habe ich mich vorher als großer Casanova aufspielen müssen?
    »Hast du mich so sehr gewollt?«, fragt Nata. Sie streichelt mir mit der Hand über den Rücken. Sie wirkt enttäuscht, aber nicht sehr.
    »Ja«, ergreife ich den rettenden Strohhalm. »Entschuldige, Nataschka …«
    »Ach, vergiss es, es ist doch schön, wenn ein Junge dich so sehr begehrt. Wollen wir wetten, dass ich dir jetzt …«
    Sie lacht, wirft sich auf mich, und meine Verlegenheit verzieht sich sofort, stattdessen

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