Sternenschimmer
wählte. »Oliv, Schatz, du musst sofort eine Suchmeldung herausgeben. Tom O’Brian ist wahrscheinlich entführt worden …«
Iason rief rasch Finn an. Dann jagten wir in Richter Hartungs Schiff durch die Stadt und zum Präsidium, wo seine Frau bereits auf uns wartete. Auf dem Parkplatz liefen uns zwei Polizisten entgegen. In voller Dienstmontur geleiteten sie uns ins Gebäude. Alles kam mir so unwirklich vor. Als wäre es ein böser Traum, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, nichts sehnlicher, als endlich zu erwachen.
Finn stand schon am Eingang. Als wir das Präsidium betraten, sahen wir Olivia Hartung. Sie war eine mittelgroße, hagere Frau. Die Haare zu einem strengen Knoten frisiert, stand sie in einem grauen Nadelstreifenanzug am Ende des Flures. Sie sprach zu zwei Männern, die ebenfalls keine Polizeiuniform, sondern Anzüge trugen. Als Olivia ihren Gatten sah, kam sie mit schnellen Schritten auf uns zu. Die Männer folgten ihr, während sie ihnen unterwegs Anweisungen erteilte. Der eine von beiden telefonierte daraufhin. Alles ging so schnell. Polizisten, Männer in Anzügen, Frauen in Kostümen, mit einem Mal waren wir umringt von Leuten. So absurd es klingt, ich fand es fast beruhigend, dass eine Polizistin mich in ihr Büro führte, um meine Aussage zu protokollieren. Die Stille in dem kleinen Raum gab mir Gelegenheit, um zu begreifen, was eigentlich gerade passierte. Ich sagte ihr alles, was ich wusste. Weshalb wir im Labor gewesen waren. Ich beschrieb ihr O’Brians merkwürdiges Verhalten, das ich mir damals aber nicht erklären konnte, erzählte von Iasons plötzlichem Erscheinen, und wie wir beide zu fliehen versucht hatten. Weiter ging es damit, was geschah, als ich zum Labor zurückkehrte, und wem wir dort begegnet waren. Auf die Fragehin, wann ich Tom O’Brian das letzte Mal gesehen hatte, wurde mir bewusst, welch grausamem Irrtum wir unterlegen waren. Was hatten wir ihm bloß unterstellt?
Einen Hoffnungsschimmer gab es immerhin. Die Tatsache, dass Richter Hartung heute mit Tom telefoniert hatte, ließ vermuten, dass er noch lebte.
»Noch«, sagte Iason, als Olivia Hartung den gleichen Gedanken aussprach. Er kannte SAH besser als alle anderen hier.
In dieser Nacht fand keiner von uns Schlaf.
Als Finn, Iason und ich wieder im Tulpenweg waren – ich hatte meine Mutter angerufen und gesagt, dass ich ein zweites Mal dort übernachten würde –, machte Bert lauwarmen Tee und brachte ihn uns ins Wohnzimmer. Wir saßen reglos auf dem Sofa. Jeder für sich damit beschäftigt, das Unfassbare zu begreifen.
»Wirst du es Lena erzählen?«, fragte Iason irgendwann in die Stille hinein.
Ich krallte die Finger in meine Oberschenkel und presste die Lippen aufeinander. Dann stand ich auf und ging zum Fenster. In der Dunkelheit machte ich den Schatten des Kirschbaums aus. Ruhig und friedlich, als wäre alles wie sonst, bewegten sich seine Zweige im Wind. Doch für mich hatte sich die Welt heute Nacht verändert.
»Das kann ich nicht«, flüsterte ich beinahe tonlos. Die Vermutung, dass Tom noch am Leben war, konnte nur eines bedeuten. Sie wollten an Informationen gelangen. Und sie würden Mittel und Wege finden, um das zu erreichen, so viel war sicher. Aber bis dahin hätten wir Zeit, ihn zu suchen. In diese Schleife des Wartens durfte ich Lena keinesfalls mit reinziehen. Sie würde es nicht ertragen. Ich hielt es ja selbst kaum aus.
»Wir müssen sie da raushalten, solange es geht.«
Finn und Iason nickten.
29
U nsere Sorge um Tom blieb ungebrochen. Doch wir konnten im Augenblick nicht mehr für ihn tun als das, was wir bereits in die Wege geleitet hatten. Es war schwer, aber wir mussten in den Alltag zurückfinden. Genau, wie wir mit dem Wissen lebten, was tagtäglich auf Loduun passierte, hielten wir nun auch aus, was mit Tom geschehen war. Verdrängung war das einzige Mittel, das uns blieb. Die Augen schließen und hoffen. Aber irgendwie, und es übertraf, weil es so nahe war, alles an Härte, was mir bisher begegnet war, irgendwie lernten wir, auch damit zu leben.
Die Aufgabe, mit Rektor Baum zu sprechen, übernahm Olivia Hartung. Sie klärte ihn über die erschreckenden Vorkommnisse so weit auf, wie es nötig war, und er verpflichtete sich, Stillschweigen über alles zu bewahren, was sie ihm anvertraute.
Am schwersten war es für mich, Lena jeden Tag zu begegnen; ihr nichts zu sagen. Ich konnte ihr kaum in die Augen schauen, so schäbig fühlte ich mich dabei. Sie war doch meine
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