Sternenschimmer
entgegen. Schon bald liefen mir Rinnsale von der Stirn über das Gesicht. Meine Haare begannen sich zu kringeln und klebten an den Wangen. Doch das machte mir nichts aus, mehr noch, ich bemerkte es kaum. Als ich die Einfahrt verlassen hatte und nach links auf die Straße abgebogen war, begann es lauter zu donnern. Der Regen wurde stärker. Innerhalb von Sekunden war die Straße überspült. Ich legte einen Schritt zu, bis ich auf einmal hinter mir noch schnellere Schritte vernahm.
»Mia!«
Ich hielt inne.
Zucker oder Gift, Zucker oder Gift?, fragte ich mich panisch. Diesmal entschloss ich mich für Zucker. Hoffentlich täuschte ich mich nicht. Hoffentlich, dachte ich inständig. Langsam drehte ich mich um, und da war ich mir ganz sicher, ich hatte die richtige Entscheidung getroffen.
Schnell atmend stand er da, klitschnass und ebenfalls von Rinnsalen überströmt. Er streckte mir meine Jacke entgegen.»Die hast du vergessen.« Seine Augen strahlten wie immer. Aber diesmal war da noch mehr. Es schien, als würde die Sonne darin aufgehen, während ihm der Regen um die Ohren peitschte.
»Äh, sie ist falsch rum«, bemerkte ich. »Das Innenfutter ist nass.«
»Oh.« Er begutachtete das aufgeweichte Fleece in seiner Hand. Dann sah er wieder zu mir auf. »Würdest du mir die Ehre erweisen und meine nehmen?«
»Nein«, lehnte ich bibbernd ab. »Dann wird dir doch kalt.«
»Ich komme aus Loduun, schon vergessen? Bei diesem Wetter beginne ich gerade erst, mich wohlzufühlen.«
Die Aussicht auf ein warmes Stück Stoff um meine Schultern hatte zugegebenermaßen seinen Reiz, insbesondere, weil es sich dabei um sein Stück Stoff handelte. Dennoch blieb ich standhaft. Ich hatte schließlich auch meinen Stolz.
»Na, dann haben wir wohl keine andere Wahl«, entgegnete er und öffnete den Reißverschluss seiner schwarzen Jacke mit der hellgrauen Sweatshirt-Kapuze. Ein blauer Schein, schimmernd wie ein Eisberg im Sonnenlicht, drang heraus.
»Was tust du?«, fragte ich.
»Du möchtest nicht, dass ich nass werde, und ich bestehe auf demselben, was deine Person betrifft.«
»Klare Pattsituation«, stellte ich fest.
Er verdrehte kurz die Augen und hielt seine Jacke auf. »Komm einfach her, ich bring dich zu Haltestelle.«
Da ich ihm gerade bis zur Schulter reichte, war unter dem flauschigen Stoff Platz genug für uns beide. Iason legte den Arm um mich und wir machten uns auf den Weg zum Flugschiff.
Von seinem Körper ging eine trockene Wärme aus, und er roch so gut, dass ich mit meinen Atomen ordentlich ins Gericht gehen musste, damit sie bloß an Ort und Stelle blieben. Von wegen, künstliche Düfte drücken alles Natürliche weg. Gegen seinen kam kein Megastore an. Jedenfalls nicht, was meine Nase betraf.
Obwohl wir langsam gingen, erreichten wir die Haltestelle viel zu schnell. Ein stilles Seufzen rutschte in mir hinab, als das helle Licht der Schiffsscheinwerfer vor uns über den grauen Asphalt glitt.
Nun zog er seine Jacke aus und legte sie um meine Schultern. Sein Blick war so bannend, ich konnte nicht widersprechen, selbst wenn ich gewollt hätte.
Er lächelte, als ich zum Dank nieste.
Als ich eingestiegen war, setzte ich mich an einen Fensterplatz. Iason stand draußen und hob die Hand, während er zurücktrat. Mit leisem Brummen entfernte sich das grüne Schiff. Ich sah ihm noch lange nach, bis er immer kleiner wurde und sich schließlich als winziger Punkt mit der Dunkelheit vermischte.
Als ich niesend zu Hause die Tür aufschloss, drang aus unserer Wohnküche das gedimmte Licht der Leselampe. Das Tapsen von nackten Füßen auf dem Holzboden kam näher, und gleich darauf tauchten ein rothaariger Zottelkopf und ein zerknitterter Jogginganzug im Türrahmen auf. Falls es dazu ein Gesicht gab, musste es irgendwo dazwischen verborgen sein.
»Und, wie war’s?« Seit meinem letzten emotionalen Totaleinbruch stellte meine Mutter mir jeden Abend ängstlich und zugleich hoffnungsvoll dieselbe Frage.
Ich schenkte ihr ein vielsagendes Lächeln und ging in mein Zimmer.
Dort angekommen, sank ich vollkommen betört auf mein Bett.
Mütter waren schon bedauernswerte Geschöpfe. Wenn es einem schlecht ging, ließ man es an ihnen aus, und fühlte man sich gut, dann wollte man nichts mit ihnen zu tun haben. Ich beschloss, das zu ändern – aber erst ab morgen.
11
I ch ging die Auffahrt zum Tulpenweg hinauf. Vertraut knirschte der Split unter meinen Füßen, während die Vögel mich trällernd des Weges begleiteten.
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