Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
halten.«
»Das würde ich niemals.« Sie wünschte sich, ihm alles erzählen zu können, ihm so zu beweisen, dass sie ihn niemals aufgegeben hatte und es niemals tun würde. Dass er ihr wirklich vertrauen konnte. Sie hatte ihn in seinen schlimmsten Momenten erlebt, auch wenn er sich nicht mehr daran erinnerte. »Sollen wir uns in das neue Café setzen, das vor ein paar Tagen aufgemacht hat? Ich war noch nie dort, und wir können ungestört reden.«
Er zögerte einen Moment, dann nickte er zustimmend, und wenig später schlenderten sie die Dorfstraße entlang, während sie über belanglose Dinge sprachen. Die Sonne stand zwar schon tief am Himmel, trotzdem tauchten ihre Strahlen die von frischem Schnee bedeckten Häuser, Gärten und Bäume in einen schimmernden Glanz. Nur die Straße und der Gehsteig waren mit Salz gestreut, sodass sie durch eine dicke Schicht braunen Matsch stapften, der in kürzester Zeit ihre Schuhe durchweichte. Das neue Café Zum Posthorn lag genau zwischen dem Internat und dem Sportplatz. Ein raffinierter Schachzug, zog es doch viele Schüler regelrecht magisch an. Dass der Eigentümer es vor allem auf die Internatsbesucher abgesehen hatte, zeigten auch die speziellen Angebote für Schüler wie die »Große Pause«, eine große Tasse Milchkaffee oder heiße Schokolade und ein Stück Blechkuchen zu einem unschlagbaren Preis.
Zu ihrem Glück waren nur einige Schüler aus der Unterstufe und ein turtelndes Paar aus der Mittelstufe da, sodass sie sich unbehelligt an einen kleinen Tisch in einer Nische zurückziehen konnten. Weiße Tischdecken, Blumengestecke und Kerzen verliehen zusammen mit den weinroten Vorhängen dem Café eine gemütliche Atmosphäre. Nachdem sie bestellt hatten, beschloss Lilly, dass es an der Zeit war, mehr über Samuels Probleme zu erfahren. »Was ist also los mit dir?«
»Wie soll ich das sagen?« Er holte tief Luft und sah sie unsicher an. »Seit dem Unfall, seit ich diesen Schlag auf den Kopf bekommen habe, sehe ich ständig Bilder vor meinen Augen, und meine Erinnerungen kehren einfach nicht zurück, obwohl sie es mir versprochen hatten. Nicht mal das kleinste Fitzelchen ist zurückgekehrt.«
»So genau können die Ärzte das sicher nicht vorhersagen.« Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nur halbherzig. »Andere wären froh, wenn sie manche Dinge aus ihrem Gedächtnis streichen könnten.«
»Vielleicht wäre ich das auch oder könnte mich zumindest damit abfinden, doch …« Er brach ab.
Lilly ergriff über den Tisch hinweg seine Hand und drückte sie sanft. »Du kannst mir vertrauen.«
»Ich träume davon, wie ich ein Reh töte und sogar Hunde und Katzen. Wenn ich Don ansehe, tauchen Bilder vor meinen Augen auf, wie sie sich mit eingekniffenem Schwanz vor mir versteckt.« Er holte tief Luft. »Ich habe sogar davon geträumt, wie ich dich jage und alles in mir danach schreit, dich aufzuschlitzen.« Er seufzte. »Du musst mich für vollkommen durchgeknallt halten.«
Bevor sie antworten konnte, brachte die Kellnerin ihnen zwei Stücke Streuselkuchen und ihren Kaffee. Lilly wartete, bis sie außer Hörweite war, ehe sie Samuels Hand, die sie keinen Augenblick losgelassen hatte, erneut drückte. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr es sie erschütterte, dass seine Erinnerungen offensichtlich wiederkehrten. Madame Favelkap und die Sternenseelen wären alles andere als begeistert, wenn sie davon erfahren würden. »Solche verrückten Träume hat doch jeder manchmal, und nach so einer Kopfverletzung sollte es dich nicht überraschen. Zudem sind wir fast so etwas wie Geschwister. Da ist es normal, dass man einander umbringen will.«
»Mag sein, aber sie tun es nicht!«
»Du doch auch nicht«, lachte sie. »Ich sitze hier unverletzt vor dir.«
»Wenn es nur so einfach wäre. Erinnerst du dich an Mabou?«
Ihr Herzschlag setzte einen Moment aus. »Ich denke, nicht«, log sie unbeholfen.
»Das war ein süßer Labradorrüde, mit dem Don gerne gespielt hat. Er ist verschwunden, und ich könnte schwören, dass ich ihn umgebracht habe.«
»In unseren Träumen verarbeiten wir Dinge, die wir tagsüber erleben. Vermutlich hast du nur davon gehört, dass sie ihn suchen.« Es tat Lilly weh, Samuel so leiden zu sehen und ihn immer weiter anzulügen. Sie musste dringend mit Raphael darüber sprechen.
»Ich bin zu der Stelle gegangen, von der ich träumte, dass er dort verscharrt wurde.«
»Das ist nicht dein Ernst«, hauchte sie.
Er nickte düster.
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