Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
ihrem gewaltigen Erfahrungsschatz nahezu unauffindbar sein.
Eine Amsel vertrieb die Meisen von ihrem Meisenknödel und pickte an dem Futter. Lilly wünschte sich, ebenfalls ein Vogel zu sein und frei von allen Sorgen über die Wälder hinwegfliegen zu können. Sie schloss die Augen und gab sich der Vorstellung hin, schüttelte den Gedanken an die Gefahr, in der sie alle schwebten, ab. Sie brauchte diese Ruhepause, ansonsten würde sie verrückt werden oder einfach eines Tages zusammenbrechen. Vielleicht sollte sie den Wunsch, eine Sternenseele zu werden, aufgeben. Offensichtlich war sie nicht in der Lage, mit dem Druck umzugehen, unter dem diese ständig lebten. Zum ersten Mal verstand sie, warum es Soldaten oft so schwerfiel, sich nach einem Krieg wieder in die Gesellschaft einzuleben. Die stetige Angst, das Gefühl der Bedrohung ließen irgendwann einfach nicht mehr nach.
Als ihr kalt wurde, stand sie auf und wanderte den Weg weiter entlang. Die Bewegung wärmte sie langsam auf, und ihre Lebensgeister kehrten allmählich zurück. Das war auf jeden Fall besser, als in einem der überheizten Arbeitsräume zu sitzen. Sie übertrieben es auf dem Internat mit der Heizung, als fürchteten sie, von empörten Eltern verklagt zu werden, sollte nur einer ihrer geliebten Sprösslinge einen Schnupfen davontragen, weil er sich zu fein war, mehr als ein Hemd zu tragen.
Irgendwann fand sie sich unter der alten Eiche wieder, unter der Raphael jeden Morgen seine Nachrichten für sie verbarg. Sie lächelte leise. Selbst wenn sie versuchte, an nichts zu denken, führte ihr Unterbewusstsein sie immer wieder zurück zu ihm. Sie waren füreinander bestimmt. Daran hegte sie keinen Zweifel. Sie umrundete den Baum, dann ging sie wieder in das Gebäude hinein, denn bald würde die nächste Stunde beginnen.
Mit geschlossenen Augen döste sie an ihrem Platz vor sich hin. Amy war noch nicht zurück, sodass sie die Bank ganz für sich allein hatte. Eine Stimme direkt vor ihr riss sie aus ihren Gedanken. »Darf ich mich heute zu dir setzen?« Sie sah auf und blickte Mikael direkt ins Gesicht. Draußen war bereits die Sonne untergegangen, sodass sie als Eingeweihte die verräterischen Zeichen der Sternenseelen erkannte. Seine Haut schimmerte leicht silbrig, um seine Pupillen leuchtete der helle Stern, und er wirkte noch wacher, als es bei ihm tagsüber ohnehin der Fall war.
Ihre Augen weiteten sich. »Zu mir? Aber … normalerweise … Ihr wart doch immer …« Sie bemerkte, dass sie stotterte und errötete. Dann atmete sie tief durch und antwortete ihm mit deutlich festerer Stimme: »Klar, der Platz ist noch frei.« Sie strich sich mit den Händen durch ihre zerzausten Haare, die der Wind draußen durcheinandergewirbelt hatte. Sie dachte an ihre Augen, die vor Müdigkeit sicherlich von dunklen Schatten umrandet wurden, an ihr blasses Gesicht, das sicher die Zeichen tiefer Erschöpfung zeigte. Nicht unbedingt das Aussehen, das Madame Favelkap von einer zukünftigen Sternenhüterin erwartete.
»Wir Jäger verbringen seit Jahren mehr Zeit miteinander, als man sollte. Da ist es angenehm, wenn man sich mal mit jemand anders unterhalten kann.«
Lilly wunderte sich, dass er mitten in einer Klasse so offen sprach, und sah sich unauffällig um. Er bemerkte ihren Blick und lächelte. »Keine Angst. Es ist laut genug, dass niemand mehr als ein paar ungefährliche Bruchstücke verstehen kann.«
Sie nickte, beschloss aber trotzdem, ihre Worte sorgfältig zu wählen. Schließlich bestand immer noch der Verdacht, dass einer ihrer Mitschüler diese Lucretia war. »So habt ihr euch aber nicht gegenüber Madame Favelkap geäußert.« Sie ärgerte sich weiterhin darüber, dass sie sich über sie beschwert hatten. Die Ausbildung zur Sternenhüterin war zwar interessant, aber was wäre mit ihr geschehen, wenn die Rektorin abgelehnt hätte, sie zu unterrichten? Hätte Mikael dann schulterzuckend daneben gestanden, wenn man sie getötet hätte?
»Wir haben Regeln, die zu unserem Schutz dienen. Wenn du wie wir in einer ewigen Schlacht kämpfst, wirst du erkennen, wie wichtig es ist, dass sie eingehalten werden, auch wenn es bedeutet, dass manchmal Opfer gebracht werden müssen.« Er legte den Kopf schief und musterte sie. »Fynn nimmt es allerdings ab und an zu genau. Er ist zu alt.«
»Das lässt sich leicht sagen, wenn man selbst nicht zu den Opfern gehört.«
»Als was würdest du denn unsere Art zu leben bezeichnen? Im Gegensatz zu deinem Raphael können
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