Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
musste ihr helfen. Er hatte gar keine andere Wahl. Ebenso wie sie niemals Mikael seinem Schicksal überlassen könnte. Sie lief in den Wald hinein. Ein funkelnder Schleier aus Nebel legte sich über die Bäume, bedeckte die Blätter, färbte die Rinde in tiefstem Schwarz und sickerte in ihre Kleidung.
All ihre Wünsche waren in Erfüllung gegangen, trotzdem fühlte sie sich in einem Albtraum gefangen. Gott, sie vermisste Raphael so. Sie krümmte sich vor Schmerz zusammen, als sie sich des Verlusts bewusst wurde. Sie wollte ihn neben sich wissen. Durch sein samtiges Haar fahren, seine weichen Lippen küssen, eins mit ihm werden. Seine Gedankenwelt zu ihrer werden lassen, alles mit ihm teilen, Leib und Seele. Wie hatte nur alles so furchtbar schiefgehen können?
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† D ieses Mal spürte Raphael ihre Anwesenheit, lange bevor sie sich ihm zeigte. Seit er sich auf sie konzentrierte, fühlte er sie ständig, und seine Zweifel daran, dass es sich um Amadea handelte, waren wie weggewischt. Sein Zwillingsstern war zurückgekehrt. Doch sie war nicht sie selbst. Etwas überlagerte ihren Glanz, zog sie mit tintigen, klebrigen Fäden in die Schwärze hinab.
Es lag an ihm, ihr zu helfen.
Die letzten Tage hatte er in dem alten Haus verbracht, das er als Rückzugsort für Lilly und sich gemietet hatte, lag in dem Bett, in dem sie sich zuletzt geliebt hatten, atmete ihren Duft ein, der noch immer in den Kissen haftete, träumte von ihrem süßen Gesicht.
Eines Nachts war sie dann gekommen, und er war dankbar für ihre Unerfahrenheit, die es ihm erlaubte, sich vor ihr zu verbergen und sie trotzdem zu beobachten, wie sie traurig und hilflos durch die Zimmer wanderte. Sie wirkte so verloren, dass er sie am liebsten an sich gezogen hätte. Er wollte sie wieder lachen sehen, außer Atem und zerzaust nach einem stürmischen Kuss mit geschwollenen, wunden Lippen, die nach mehr verlangten. Aber sie war nicht länger Sein. Wenn Amadea und die Verantwortung, die er ihr gegenüber empfand, nicht wären, würde er vielleicht um Lilly kämpfen. Doch wäre es etwas anderes als reiner Egoismus? Solange Mikael lebte, wäre sie im stetigen Widerstreit mit ihren Gefühlen, sollte sie sich gegen ihn entscheiden. Sie würde niemals ihm allein gehören und daran zerbrechen. Durfte er ihr das zumuten, nur um sein eigenes Glück für kurze Zeit zu finden? Sein Schicksal lag bei Amadea, wohin auch immer es ihn führen mochte.
Und so stand er am Fuße des Hangs, an dem Lilly zur Sternenseele wurde, und wartete auf ihre Mörderin. Seine Amadea.
Das erste Mal war er an diesen Ort gekommen, um zu begreifen, was geschehen war. Zuerst hatte er sie nur gespürt und dann gesehen, wie sie reglos zwischen den Bäumen verharrte. Ihre Blicke trafen sich, verschmolzen für einen Augenblick, dann war sie fort wie eine Illusion, die der Nachtwind davontrug. Doch in der nächsten Nacht kehrten sie beide zurück, näherten sich vorsichtig einander an, umkreisten sich wie zwei kampfbereite Skorpione, die Stacheln drohend erhoben.
Da war keine Liebe in ihren Augen, und seine Gefühle bestimmte ein unentwirrbares Chaos aus Erinnerungen und Schuld, die die Gegenwart erstickten.
In dieser eisigen Winternacht war es jedoch anders. Sie stand nur da, sah ihn aus dem Mondschatten einer jungen Eiche an und sprach mit zynischer Stimme: »Betrauerst du den Verlust deiner kleinen Gespielin?«
Er hatte das Gefühl, als würde er zurück in die Vergangenheit geworfen werden. Alte Gefühle wallten in ihm hoch. Kaum mehr als ein Schatten ihrer vergangenen Verbundenheit, aber immer noch stärker, als er in diesem Augenblick verkraften konnte. Ihr Gesicht war ein Spiegel seiner eigenen Verwirrtheit, doch da war noch etwas anderes. Besser gesagt: Da fehlte etwas. Kein Wiedererkennen. Kein Schock oder Zaudern. War es wirklich Amadea? Hatte sie womöglich eine Zwillingsschwester? Doch wie sehr konnten sie sich gleichen? Er sah keinen Unterschied zu dem Mädchen aus seinen Erinnerungen. Selbst das Muttermal über der linken Augenbraue, das er nie hatte küssen dürfen, war deutlich zu erkennen. Ebenso wie die kleine Narbe an ihrem Kinn. Oder täuschten ihn seine Erinnerungen? Wollte er so sehr, dass sie noch lebte? Doch warum sollte er? Als er sie das erste Mal erblickt hatte, hatte er sich mit Lilly glücklich gewähnt und eine Zukunft für sie beide gesehen. Das ergab alles keinen Sinn.
»Wo warst du all die Jahre?«, fragte er sie.
Sie runzelte die Stirn. »Du kennst
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