Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
die Ruine von Kasin’gil. Seid vorsichtig, es wird alles fremdartig erscheinen, niemand weiß, wann sie errichtet wurde oder warum.«
Ein mulmiges Gefühl beschlich Lilly, aber sie schwankte nicht in ihrem Entschluss. Irgendwann musste sie Mut beweisen.
Lea öffnete unter lautem Knarren die Tür. Dahinter kam eine Treppe zum Vorschein, die in die Tiefe führte. Sie zückten ihre Taschenlampen und leuchteten hinein. Eine dicke Schicht Staub bedeckte die Stufen, an ihren Seiten wucherten schleimige Pilze, und kleines Getier huschte vom Lichtschein erschreckt davon.
Nachdem Lea vorausgegangen war, holte Lilly tief Luft und wagte den ersten Schritt in die Finsternis hinab. Die Treppe war glitschig, und in ihr tauchten unwillkürlich Bilder auf, wie sie abrutschte und für immer die Stufen hinunterstürzte. »So ein Schwachsinn«, flüsterte sie. »Irgendwann würde ich auf den Boden treffen, dann wäre es vorbei.« Trotzdem stieg ein beklemmendes Gefühl in ihr auf, während sie tiefer und tiefer in die Dunkelheit ging und einzig der schmale Kranz der Taschenlampe ihr Helligkeit spendete.
Bereits nach wenigen Schritten verschluckte die Dunkelheit das restliche Sternenlicht. Fast zeitgleich weitete sich die Treppe, sodass sie breit genug war, um fünf Menschen nebeneinander Platz zu bieten, wobei sie wie aus einem einzigen Guss wirkte. Nach etwa zehn Minuten hielt Lilly an und schwenkte den Strahl ihrer Taschenlampe nach hinten. Der Anblick der endlosen Stufenreihen hatte etwas Bedrückendes, gab ihr das Gefühl, in einem Labyrinth gefangen zu sein. Wer mochte das wohl gebaut haben? Fast hatte sie den Eindruck, auf dem Äußeren einer kopfüber in den Boden gerammten Pyramide zu laufen. Nach einer kurzen Pause ging sie weiter, wobei das beklemmende Gefühl stärker wurde, zu dem sich die Angst zu ersticken gesellte. Manchmal wirkte es fast so, als wäre sie allein, wenn die Umrisse der anderen in der Finsternis verschwammen und nur ihr eigener Herzschlag in ihren Ohren dröhnte.
Schließlich erreichten sie einen gigantischen Gang, der in den grauen Fels hineinführte. Zögerlich folgte sie Lea hinein, auch wenn sie froh war, dass es zumindest nicht weiter in die Tiefe ging. Dafür verschlechterte sich die Luft allerdings rapide, bis es sich anfühlte, als würde sie eine zähe, modrige Masse einatmen. Sie war froh, dass sie die GPS -Uhr mitgenommen hatte, auch wenn das Signal des Satelliten sie in der Tiefe nicht erreichte. Zumindest hatte sie eine beleuchtete Uhr, die ihr versicherte, dass sie nicht bereits seit Tagen in der Tiefe unterwegs waren. Der Gang mündete in eine gewaltige Halle, die von steinernen Säulen gestützt wurde, an denen Pflanzen mit großen, fleischigen Blättern emporrankten. Lilly blieb vor einer stehen und betrachtete sie genauer. Zu ihrer Überraschung waren sie nur Skulpturen, die aus einem fast schwarzen Stein geschlagen worden waren. Sie streckte die Hand aus, um sie zu berühren, und stellte fest, dass sie warm und seidig glatt waren. Erschrocken zog sie die Hand zurück und eilte weiter.
Das Licht wurde allmählich heller, bis sie in einen etwa drei Meter hohen, kuppelförmigen Raum kamen, in dessen Boden ringförmig Muster graviert worden waren. Am höchsten Punkt der Decke schwebte eine silbrig leuchtende Kugel, die langsam zu rotieren schien und von der das Licht ausging. Doch Lilly schenkte ihr keine Beachtung, ebenso wenig den kunstvoll verzierten Wänden. Ihr Blick wurde von der zarten Gestalt, die auf einem Podest in der Mitte des Raumes lag, angezogen. Das musste Andromeda sein, auch wenn sie vollkommen anders aussah, als sie erwartet hatte. Unter einem jahrtausendealten Wesen hatte sie sich etwas Älteres und Primitiveres vorgestellt, doch vor ihr lag ein wunderschönes, asiatisches Mädchen von etwa zwölf Jahren mit porzellanartiger Haut, großen, schräg stehenden Augen und einer sepiafarbenen Tätowierung in Form einer Blüte auf der Mitte ihrer Stirn. Ihr schwarzes Haar umhüllte sie wie ein Schleier und fiel in Wogen das Podest hinab. Sie trug ein schneeweißes, ärmelloses Kleid, silberne Perlenohrringe und einen transparenten Schal.
Ratlos blieb Lilly vor ihr stehen, während Anni sie ehrfürchtig umrundete. Sie hatte irgendeine Reaktion erwartet. Ein Blitzschlag, der sie treffen würde, Fallen oder gruselige Wächter. Lebte sie überhaupt? Lilly beobachtete sie, konnte aber kein Heben oder Senken der Brust erkennen. Zaghaft streckte sie eine Hand aus, doch bevor
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