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Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit

Titel: Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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Arnimi auch einen Zustand der Kindheit durch? Sie versuchte, sich diese nüchternen Persönlichkeiten als Säuglinge, als Kinder vorzustellen – dickbäuchige dingen und Mädchen mit zurückweichendem Haaransatz und hervortretenden Augen. Sie lachte laut auf. Dennoch hatte jeder Arnimi, den sie gefragt hatte, behauptet, daß er oder sie einmal Kinder gewesen waren.
    Schließlich verriegelte sie die Doppeltüren am oberen Ende und schritt nachdenklich die Treppe hinunter. Dann verschloß sie die einfache, große Tür am unteren Ende. Als sie die Küche wieder erreichte, stand ihr neuer Gefährte am Tisch und schnitt sich eine dicke Schnitte Frühlingsbrot ab. Beim Klang ihrer Stimme fuhr er auf, ließ das Messer fallen und sah sie mit erschreckten Augen an.
    Ihr Lachen klang wie eine Handvoll Kristall, zu hell. »Wenn du weiter so ißt, werde ich dich Breeterlik nennen. Hungriger Breeterlik«, verkündete sie, wie trunken vor Erleichterung. Die Steine hatten ihren Schwur eingelöst. Er war nicht in den Winterschlaf gefallen.
    Er entspannte sich etwas, und in dem sichtbaren Bemühen, ihr zu gefallen, sagte er undeutlich: »Hungrig.«
    »Breeterlik!« Ihre Stimme klang schrill. Sie war nicht allein.
    Bis zum Abend hatte sie ihn in Dunkeljunge umgetauft. Am nächsten Tag brachte sie ihm ihren Eigennamen bei, und wenn man von der beunruhigenden Leere tief in seinen Augen und dem zeitweiligen Erschlaffen seiner Gesichtszüge absah, war der Winter für eine Weile heller in dem verlassenen Palast. Es schien sogar, als würde Adar in diesem Jahr nicht am Winterhimmel wüten. Khira hatte etwas gelobt.
     

5 Der Junge
    Der Junge kam zum Palast, in jeder Hinsicht leer; leer von Gedanken, von Meinungen, von Erinnerungen. Er kam aus Verhältnissen, an die er sich nicht mehr erinnern konnte, und in Verhältnisse, die er nicht begriff. Er kam ohne Waffe oder Worte. Er saß auf einer kalten Steintreppe – er wußte nicht, wie er dorthin gekommen war – einer Tür gegenüber; und als er klopfte, gab niemand Antwort.
    Dann kam eine Antwort, und der Junge befand sich im Palast, genauso leer wie zuvor, nur daß ihm das Mädchen zu Essen gab. Und mit dem Essen in seinem Bauch begriff er, daß die Zeit nicht aufhörte – obwohl sie übergangslos auf den kalten Stufen begonnen hatte – weder dort noch in dem Raum, wo er aß. Sie setzte sich fort; in weitere Stunden und Orte. Soviel sagten ihm Hunger und Sättigung; aber er vermochte nicht zu sagen, wie.
    Tatsächlich, die Zeit dehnte sich vorwärts, und der Junge fand heraus, daß sie nicht nur in Einheiten von Stunden kam, sondern in Einheiten von Tagen, einer ununterbrochenen Reihe von Tagen. Während der ersten Tage besaß der Junge wenig Wissen von irgend etwas, was jenseits der Kälte, des Mädchens und der Anforderungen seines inneren Lenkenden lag, dessen allwissende Gegenwart ihn in allem, was er tat, unterwies. Er erwachte jeden Tag in einem kalten, hohen Zimmer, das mit Dingen behangen war, die rasselten, und anderen Dingen, die farbenfroh leuchteten. Seine Umwelt bestand aus dem Bett, auf dem er lag, den mit einem leuchtenden Gitterwerk aus Stengellampen überwachsenen Steinwänden und der Decke, zwei dicht verschlossenen Fensteröffnungen und einer Anzahl von Gegenständen, die an den Wänden und auf einer hölzernen Truhe ausgebreitet waren.
    Jeden Morgen, nachdem er erwacht war, lag er still auf dem Bett und wartete auf den Lenkenden. War sein Lenkender bereit, zog der Junge seine Stiefel an und macht eine langsame Runde durchs Zimmer, um seinen Inhalt zu untersuchen. Er berührte genoppte Behänge, geschliffen Steine, winzige Figürchen und getrocknete Pflanzenteile. Die Eigenschaften von allem wurden systematisch dem Teil seines Gehirnes übermittelt, der Daten speicherte. Nach den ersten Tagen wiederholte er dieses Ritual. Aber das Gehirn des Jungen war leer und mußte auf die Art gefüllt werden, wie der Lenkende es wünschte. Der Junge verstand und duldete es. Der Wille seines Lenkenden war sein Wille.
    Eines der ersten Dinge, die der Lenkende ausgesucht hatte, um das Gehirn des Jungen zu füllen, war die Sprache des Mädchens. Und sie war begierig darauf, sie ihm beizubringen.
    In der ersten Nacht, als sie aufeinander gestoßen waren, war der Junge verwirrt gewesen und hatte gedacht, es gäbe viele Mädchen im Palast. Als die schwere Tür, die ihn eingesperrt hatte, geöffnet wurde, war das Mädchen, das ihn angestarrt hatte, ein erschrockenes Mädchen gewesen.

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