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Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit

Titel: Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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Blätter weinten. Er war jünger, als sie ihn kannte, schmächtiger; und er ging in solcher Anspannung den Pfad entlang, daß ihn der Magen schmerzte. Weit vorne hörte er Stimmen. Singen? Rufen? Nein; Lachen. Als er es vernahm, fühlte er die vertraute freudige Regung – und dann wandte er sich hölzern ab. Der Traum ging selten über diesen Punkt hinaus: der Weg, die Stimmen, das sehnsuchtsvolle Ausgreifen. Wenn er aus dem Traum gerissen wurde, blieben nur Wut und das Gefühl eines Verlustes.
    Aber heute nacht – Kadura runzelte die Stirn: War es wegen etwas, das sie gesagt hatte? War es, weil sie zugelassen hatte, daß der Junge ihre Schärpe berührte? Heute nacht setzte er seinen Weg fort. Weitere Bilder entstanden vor ihm: Wegabzweigungen; eine, die zum Tanzplatz führte, die andere zum Weiler. Er wählte die zweite Abzweigung, und als der Traum noch immer weiterging, begann ihm das Herz gegen die Rippen zu hämmern, der Atem wurde ihm kurz. Wenn er sich nur schnell genug bewegen könnte, wenn er laufen könnte, würde er vielleicht die Grenzen des Weilers erreichen, bevor der Traum verging. Vielleicht ...
    In banger Hoffnung beschwor er den Traum weiterzugehen. Er trug ihn rasch zu den Nistbüschen, in denen Blauläufer gluckten, zum ersten und zweiten Gebetspfeiler. Dort hielt er inne, aber nur flüchtig, und preßte die Stirn gegen den polierten Steinpfeiler; passierte dann die Gemeindeweiher, wo die Tempellosen ihre Saat ausstreuen mußten.
    Dort waren die Stimmen schon deutlicher, und er stand an der Grenze des Weilers. Der Ort war weitläufig und luftig erbaut, dachlose Häuser wurden von geneigten Bäumen beschirmt, die sie umgaben. Wenn es regnete, spürten die Menschen nur einen leichten, erfrischenden Nebel durch die Bäume. Wenn die Sonne schien, flirrte ihr Licht durch die Blätter.
    Er hielt inne, wagte kaum zu atmen. Dieser Traum war so zerbrechlich und so voller Sehnsucht. Er hatte so oft nach ihm gegriffen. Wenn er jetzt verschwand ...
    Doch er verschwand nicht. Er blieb. Von Sehnsucht beflügelt, lief er den Weg hinunter. Als er das Haus betrat, in dem die Familie lebte, als er durch die offene Tür eintrat, wurde er von einer derartigen Vielzahl von Gesichtern und Eindrücken überschüttet, daß er sie kaum auseinanderhalten konnte.
    Sein Traum war eine Wiedervereinigung, eine Rückkehr zu Menschen, deren Verlust er beinahe schon vergessen hatte. Er schloß sich ihnen wieder an, mit schmerzlicher Begierde; die violettäugige Frau, die neben ihm kniete, als er die Feder in die Hand nahm und seine ersten Zeichnungen auf einem dicken Block gelben Schreibpapieres machte; das Mädchen, das im angrenzenden Zimmer sang; der Mann, der draußen sprach, während die silbernen Blätter flüsterten.
    Er war im Nichts gewesen, hungrig, erschreckt und allein, der Verstand ausgeleert. Dann hatte die Frau ihn gefunden, und plötzlich hatte er ein Heim und Schwestern, drei an der Zahl. Sie trugen Gewänder in den Farben des Sonnenuntergangs und plapperten glücklich, jedes Wort deutlich und singend, während er einfach nur darum rang, sich verständlich zu machen. Aber er war der einzige, dem die Frau sich jeden Tag zuwandte, nachdem er gebadet hatte. Er war der einzige, dem sie beibrachte, Feder und Papier zu gebrauchen.
    Weil er der einzige war, dessen Gegenwart der Familie die Berechtigung verlieh, in dem vom Himmel überdachten Tempel mit den anderen Familien zu knien. Keine Familie durfte dort knien, bis ein Sohn da war, der die Familiennamen in die vergilbten Seiten des Registers eintragen durfte. Und bis er gekommen war (Wie? Woher? Und warum war sein Verstand so leer gewesen?), hatte es keinen Sohn in der Familie gegeben.
    Jetzt war er der Sohn.
    Es kam der Tag – nach Art der Träume kam er überraschend schnell –, daß er die Buchstaben des Namens richtig malen konnte. Dann schritt die ganze Familie mit stolz gestrafften Schultern unter dem Bogen des Tempels hindurch und kniete nieder, um den Wind durch die Saiten der Gottesstimme singen zu hören.
    Während sie der Stimme des Gottes im Tempel lauschten, kämmten die Frauen und Mädchen ihre mitternachtschwarzen Haare mit den Fingern aus und ließen den Gott auch durch diese Strähnen sprechen. Keinem Mann war es erlaubt, lange Haare zu tragen; so konnte kein Mann jemals die Gottesstimme auf diese innige Art vernehmen. Aber hatte die Stimme Gottes einmal durch das Haar der Frau und ihrer Töchter gesprochen, würden die in den Familienweiher

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