Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
Sträuchern hörte sie jemanden husten, eine tiefe Stimme. Sie musterte die grüne Wand. Die Monde standen jetzt niedrig, bereit unterzugehen. Wenn sie den Weg ins Labyrinth finden würde, wenn sie gerade noch genug sehen würde, um den Weg durch die giftigen Korridore zu finden ...
Die Stimme, die sie schon einmal gehört hatte, wurde jetzt lauter. Sie zögerte. »Tedni?«
»Keva?« Es war Daniors Stimme, er sprach gedämpft. »Hier. Ich bin hier drüben.«
Es dauerte noch einige Minuten, bis sie endlich aus dem Labyrinth auftauchten. Danior stolperte, er war leichenblaß. Tedni versuchte ihn zu stützen, doch sie waren kaum aus dem Labyrinth hervorgekommen, als er auf die Knie fiel und sich heftig erbrach. Tedni hielt seine Schultern, dann lief er zu Keva hin.
Ihr erster Gedanke war, daß etwas mit ihrem Vater geschehen war und Danior es mit seinem Stein gesehen hatte. »Mein Vater ...« sagte sie atemlos. War er verletzt? Tot?
»Nein, nein – wir wissen nichts über ihn. Sie kommen zurück. Sie kommen jetzt zurück«, sagte Tedni. Er war ebenso bleich wie Danior, Schatten gruben tiefe Höhlen in sein Gesicht. »Aber es war schlimm. Es war schlimm, Schwester. Danior ...« er drehte sich besorgt um. »Kannst du gehen, Bruder?«
Danior kam zitternd auf die Füße; seine Lippen waren kalkweiß. Zum erstenmal bemerkte Keva, daß er seinen Stein nicht trug. Tedni trug ihn an seiner Stelle, die Kette hing hinab. Keva trat einen Schritt zurück. »Was ist geschehen?« verlangte sie zu wissen und fragte sich sogleich, ob sie es wirklich erfahren wollte. Sie fragte sich, was so schlimm gewesen sein mochte, daß es alle Farbe aus Daniors Gesicht vertreiben konnte.
»Der Mann, der den anderen Stein trug; der Mann, durch den er sah ...« Tedni atmete heftig, schaute mit erschrockener Scheu auf Danior.
»Der Stein ... ich war dort«, sagte Danior schließlich mit einem trockenen Krächzen. »Ich war dort, als sie angriffen, Als sie kämpften. Ich war dort, als sein Bruder getötet wurde. Ich war dort ...« Seine Stimme versagte.
Kevas Magen zog sich zusammen, als sie begriff, was er ihr damit sagen wollte. »Du hast alles gesehen«, flüsterte sie heiser. Der Stein hatte ihn in das Zentrum des Kampfes versetzt, und er hatte alles gesehen.
»Alles - aber ich habe es nicht nur gesehen. Ich habe es gefühlt. Ich
fühlte
alles.« Er blickte kurz zu Tedni. »Diese Menschen, die Männer der Kleinen Clans ...«
»Sie sind Tiere!« fauchte Tedni.
Danior schüttelte den Kopf. »Sie sind ... nein, sie sind keine Tiere, Tedni. Sie ... wissen, daß du hier bist, Keva. Sie haben bereits davon gehört. Sie denken ... sie denken, daß der Größere Clan sie jetzt aus den Weidegebieten vertreiben wird, die sie für ihre Schafe brauchen. Sie denken, daß der Größere Clan ihnen ihre Frauen fortnehmen und ihre Kinder töten will. Sie …
»Weil ich hier bin?«
Keva schrak zurück, wollte es nicht glauben.
»Weil
-
ja. Sie verstehen es nicht. Das ist, was Jhaviir letzte Nacht meinte. Was die Kleinen Clans tun würden, wenn sie eine Barohna hätten. Sie würden die anderen Clans von ihrem Land vertreiben. Sie töten. Würden nur ihre Frauen übriglassen, um sich mit ihnen zu paaren.
Sie haben Hunger. So leben sie - hungrig. Jeder Bissen, den sie zu sich nehmen, bedeutet, daß ein anderer hungrig bleibt. Und jeder Bissen, den ein anderer zu sich nimmt, bedeutet, daß sie hungrig bleiben. Wenn sie eine Barohna besäßen, würden sie sie dazu benutzen, alle anderen zu vertreiben.«
»Aber mein Vater ...« Ihr Vater war kein Mann der Kleinen Clans. Er hatte die Menschen vereinigt, nicht auseinandergetrieben. Hatte sie gelehrt, Glas herzustellen und Gärten anzulegen. Seine Leute waren versorgt.
Doch unwillkürlich erinnerte sie sich an etwas, was Rezni zu Beginn ihrer Wanderung aus dem Wald gesagt hatte. Daß sie - wenn sie Männern der Kleinen Clans auf ihren Streifzügen begegneten - ihnen zwar die Kehle durchschneiden, aber ihren Besitz nicht anrühren würden. Weil Stehlen gegen die Gesetze der Ehre verstieß.
Verstieß das Töten eines Feindes ohne eine Herausfordeung gegen die Gesetze der Ehre? Oder war die bloße Existenz des Feindes Herausforderung genug?
»Nein«, sagte sie und entnahm Daniors gespanntem Blick, laß er ihren Gedankengängen nicht gefolgt war. »Mein Vater würde ... « Er würde die Leute der Kleinen Clans nicht loten, auch wenn er die Macht dazu hätte, nur um die Sicherheit des Größeren Clans zu
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