Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
Sonnenstein nur ein Stein; glatt, untätig, dunkel.
Ohne eine Barohna hätte auch der Paarungsstein dunkel sein sollen. Stirnrunzelnd schob Danior die Hand in die Tasche und schloß sie um den Beutel, in dem er den Stein aufbewahrte. Der Stein hätte dunkel sein sollen; aber er war es nicht – nicht, wenn er ihn in der Hand hielt. Dann gab er Licht und Wärme ab und glühte auf geheimnisvolle Weise wider die Kälte seines Fleisches.
Danior zog die Hand steif aus der Tasche. Sein Vater hatte gesagt, er müsse seinen eigenen Weg finden. Aber seitdem er den Paarungsstein zum erstenmal berührt hatte, bewegten sich seine Gedanken wie in einem Labyrinth – auf miteinander verbundenen Wegen, die nirgendwohin führten –, immer nur zum Paarungsstein zurück. Immer wieder zum Paarungsstein. Wie sollte er einen Weg wählen, wenn sie alle zum selben Ziel führten, und wenn Verwirrung alles war, was er dort fand?
Seine Mutter, sein Vater und seine Schwestern hatten den Stein berührt, und er war dunkel geblieben. Aber für ihn lebte er, und niemand im Tal Terlath wußte, wieso. Bedeutete die Reaktion, daß er zumindest einen Teil der Macht besaß, die seine Mutter mit Hilfe der Steine ausüben konnte? Aber diese Begabung konnte nur auf die vorgeschriebene Weise ausgebildet werden, und er hatte nichts von dem unternommen, was eine Palasttochter anstellen mußte, um eine Barohna zu werden. Er hatte nicht trainiert. Er war nicht auf den Berg gegangen, um dort seine Probe zu machen. Er hatte sich nicht verändert. Er war, wie er immer gewesen war: unschlüssig, im Schatten und voller Zweifel.
Demnach bedeutete das Leuchten des Steines nichts? Eine zufällige Abweichung? Richterin Pergossa wußte es nicht. Seine Eltern wußten es nicht. Aber ganz bestimmt würde der Edelsteinmeister es wissen. Seine Mutter hatte nichts von dieser Art gesagt, als sie vorgeschlagen hatte, ihn zu rufen. Sein Vater hatte davon ebenfalls nichts gesagt, als er zugestimmt hatte, daß man ihn rufen sollte. Sie hatten beide nur gesagt, der Edelsteinmeister wäre die geeignetste Person, um den Stein zu beurteilen. Aber wenn er nicht sagen konnte, weshalb er in Daniors Hand leuchtete, wer konnte es dann?
Danior fröstelte, er rieb die Hände an den Hosenbeinen ab und rannte über die Plaza.
Die Palasttüren standen offen und enthüllten eine hell strahlende, überwucherte Halle. Stränge von Stengellampen hingen von den Wänden, Rankenausläufer bildeten Lichtadern auf den Fliesen. Danior betrachtete den Boden der Halle. Im Staub waren Spuren zu sehen, aber es gab keine Anzeichen dafür, daß Menschen hier durchgegangen waren.
Der Edelsteinmeister war also noch nicht eingetroffen. Danior zögerte einen Moment, dann schritt er an den großen Türen vorbei, unter dem gewölbten Entree bis zum Thronsaal. Reben aus Licht drangen vom Flur her ein, krochen über den Fußboden und warfen ein gespenstisches Zwielicht an die überwölbte Leere des Thronsaales. Daniors Stiefeltritte klangen hohl auf den Fliesen, als er sich dem dunklen Thron näherte. Selbst die Spiegel hoch oben an den Wänden waren trübe, die reflektierende Oberfläche war verstaubt.
Nur der Sonnenthron wies keine Anzeichen einer Verwüstung auf. Danior trat näher; er versuchte sich vorzustellen, wie er in den Tagen, da der Thronraum noch das lebende Herz des Tales gewesen war, sein makelloses, glühendes Licht von sich gegeben hatte. Versuchte sich den Lärm der Monitoren, Boten und Berater vorzustellen, das Geräusch von Menschen, die in Stiefeln über die Fliesen gingen, den Geruch von gebackenem Brot in den abgelegenen Küchen –sämtliche Aktivitäten des Tales hatten sich hier konzentriert. Und das Leben des Tales war von hier aus gespendet worden, vom Sonnenthron aus.
Und jetzt war alles mit einer einzigen Person gestorben. Danior runzelte die Stirn und ging näher an den Thron; er war mit sich selbst im Zweifel, ob er es wagen konnte, ihn zu berühren. Niemand außer einer Barohna war es gestattet, einen Thron zu berühren, der Licht enthielt. Doch dieser Thron war dunkel.
Ein Geräusch vom Flur her schreckte ihn auf und ließ ihn vorübergehend erstarren, sein Herz setzte einen Schlag aus. Als sich das Geräusch wiederholte, schlüpfte er durch den Bogengang und sah einen kleinen, huschenden Schatten, weit hinten im Flur. Ein Tier, wahrscheinlich einer der winzigen Samensammler, die die Felder zur Erntezeit heimsuchten. Jetzt war es der Eigentümer des gesamten Palastes.
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