Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
auf und machten einen Menschen aus mir. Dann, nach vier Jahren, kamen die Benderzic und nahmen mich mit sich fort. Sie stülpten ihren Helm über meinen Kopf und zogen jede Einzelheit, die ich gesammelt hatte, aus mir heraus – die Bodenschätze, die Stärken und Schwächen der Menschen, ihre Gewohnheiten und Bräuche. Und sie nahmen mir meine Erinnerung fort. Sie ließen mich leer zurück. Nachdem sie mir den Helm abgenommen hatten, konnte ich mich nicht einmal an das Gesicht des Mannes erinnern, der si vier Jahre lang mein Vater genannt hatte.
Leer setzten sie mich auf einer anderen Welt ab, dies für fünf Jahre. Eine Frau fand mich in den Bäumen, nah mich zu sich nach Hause und machte mich zu ihrem Sohn. Sie gab mir zu essen und kleidete mich. Sie brachte mir Lesen und Schreiben bei. Und sie lehrte mich, was es bedeutet, sich um andere Menschen zu sorgen, was es heißt, ein Mensch unter Menschen zu sein. Ich fand sogar ein paar verstreute Erinnerungen an die einfachen Leute wieder, bevor die Benderzic kamen und mich mit sich fortnahmen. Und mir meine ganzen Erinnerungen raubten.
Zuletzt setzten mich die Benderzic hier ab. Sie ließen mich in der Kälte des Winters im Palastturm zurück. Deine Mutter fand mich, und diesmal war sie es, die aus mir einen Menschen machte. Ich besaß keine Sprache, keine Erinnerung; hatte kein Empfinden von mir selbst als etwas, das sich von einem Werkzeug der Benderzic unterschied. Alzaja, Khira Schwester, war in diesem Jahr auf dem Berg gestorben, und Khira war einsam. Sie machte mich zu ihrem Gefährten, obwohl sie nichts über mich wußte. Sie gab mir zu essen, beschützte mich, zerstörte schließlich das Benderzicschiff, da meinetwegen zurückgekommen war. Alles, was ich bin, wurde ich durch sie. Aber es brauchte seine Zeit, bis ich meine Erinnerungen wiederfand. Ich habe nicht alles wiedergefunden. Ich kann mich daran erinnern, daß ich mit meiner zweiten Mutter zum Tempel gegangen bin, um die Gottesstimme zu hören, aber ich kann die Worte des Gesanges nicht wiedergeben – obwohl ich manchmal davon träume. Ich kann mich daran erinnern, daß ich meinem Vater den einfachen Leuten beim Aussäen geholfen habe, aber ich weiß nicht, was sich aus der Saat entwickelt hat.
Ich habe in meinem Leben zu viele Menschen und zu viel Orte hinter mir gelassen. Ich habe erfahren, was es heißt, sich nach einem Gesicht, das man kennt, zu sehnen, na einem Gesicht, das man nie wieder sehen wird. Ich habe er fahren, wie schnell selbst Erinnerungen vergehen könne wie leer man ohne sie ist und wie schwer es ist, sie zurückzurufen, wenn sie angefangen haben, zu verblassen. Mehr als andere Länder zu sehen, wünsche ich mir, hier zu bleiben, wo ich die Gesichter kenne und wo meine Erinnerungen noch um mich herum leben.
Und ich werde hier bleiben, bis ich gehen muß.«
»Bis ...« Danior sog besorgt die Luft ein. »Du glaubst, die Benderzic werden deinetwegen zurückkehren? Nach so langer Zeit?«
»Im System der Dinge ist es nicht lange gewesen. Achtzehn Jahre. Und sie wissen, gerade durch die Tatsache, daß Khira ihr Trägerschiff zerstört hat, daß hier etwas Beachtliches existiert. Etwas, das ihre Aufmerksamkeit wert ist. Ich nehme an, sie machen einen weiteren Test; wahrscheinlich benutzen sie dafür eine andere Zucht von Abbildern. Wir halten Ausschau danach – der Rat, die Wächterinnen, die Arnimis. Unter uns, wir werden darauf achten, daß ihr zweiter Versuch, Brakrath auszuwerten, genauso erfolgreich sein wird wie der erste.«
Daniors angespannte Schultern lockerten sich etwas. »Wenn du nicht glaubst, daß dich die Benderzic mitnehmen ...«
»Warum sollte ich gehen?« Er wandte das Gesicht Nindra zu, ließ sich in ihrem bleichen Licht baden. »Tanse ist jetzt alt genug, um ihre Probe zu machen. Sie wird zum Mittsommer mit dem Training beginnen. Härtet sie nicht, wird Aberra in zwei Jahren mit dem Training anfangen; und drei Jahre später wird Reyna trainieren. Wenn niemand von ihnen härtet ...«
Danior fröstelte unwillkürlich. »Dann wird, wenn Mutter die Kraft der Steine verliert, das Tal sterben.«
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Nein, bei deiner Mutter haben die Jahre, in denen sie Kinder austragen kann, gerade erst angefangen. Wäre sie den alten Bräuchen gefolgt, wären ihre Kinder im Abstand von zehn, fünfzehn, sogar zwanzig Jahren gefolgt, über eine Zeit von einem Jahrhundert – oder länger. Und nicht zwei von ihnen stammten vom selben Vater. Statt dessen
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