Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
gewöhnlich äußerte, wenn man ihn traf. Er hatte sich nicht vorgestellt, sich nicht nach der Fruchtbarkeit des Terlath-Tals erkundigt, und er hatte nicht einmal Daniors Namen wiederholt, als er ihn anredete. Seine Konzentration auf den Stein war so ausschließlich, daß sich Danior zurückgesetzt fühlte.
»Habt Ihr ihn selbst geschnitten und geschliffen?« wagte er zu fragen. Es war schwer abzuschätzen, ob der Meister bereits alt genug war, um schon vor achtzehn Jahren ein Meister gewesen zu sein. Sein Gesicht war so faltig wie seine Lederhose, aber in seinen Augen war durchdringende Klarheit.
Der Edelsteinmeister schüttelte den Kopf und untersuchte den Stein weiter; er drehte ihn, damit die geschliffenen Facetten das Licht der Lampen einfangen und reflektieren konnten. Endlich richtete er sich auf und wandte seine Aufmerksamkeit ebenso ausschließlich Danior zu. »Erzähle mir, was du beim ersten Mal, als der Stein für dich leuchtete, gefühlt hast.«
Danior schrumpfte unter dem intensiven Blick zusammen, es widerstrebte ihm, die Erschütterung, seine Stimmung und das Erschrecken wiederzugeben. »Meine Hand fühlte sich warm an.«
Der Meister nickte, als wäre die Antwort nicht ausweichend gewesen. Als hätte er das Unausgeprochene in Daniors Worten ebenso klar vernommen wie das, was er gesagt hatte. »Und jetzt? Was spürst du, wenn du ihn jetzt berührst?«
Danior zögerte; er fühlte, daß er sich ebensogut vor dem Himmel verstecken könnte wie vor dem Blick des Meisters. Dennoch versuchte er es. »Das – dasselbe. Meine Hand fühlt sich warm an. «
»Wie oft berührst du ihn?«
»Nur – nur, wenn ...« Aber ein Ausweichen war sinnlos. Die Pupillen des Meisters hatten sich zu winzigen Löchern zusammengezogen, Nadellöcher, durch die er alles sah. Danior raffte sich auf, holte zögernd Luft und ließ die Worte mit der angestauten Gewalt seiner Verzweiflung hervorsprudeln. »Tagsüber trage ich ihn in meiner Tasche. Nachts nehme ich ihn heraus und lege ihn auf meine Kommode. Ich berühre ihn nur, wenn jemand ihn sehen möchte. Ich möchte ihn gar nicht berühren. Ich möchte ihn nicht anfassen. Ich möchte ihn noch nicht einmal tragen. Nicht, bevor Ihr mir gesagt habt – nicht bevor ...« Bevor was? Was wollte er vom Edelsteinmeister hören? Daß das Licht im Paarungsstein eine unbedeutende Brechung war? Daß er eine bescheidene Legende darauf aufbauen könnte, ohne daß man später große Erwartungen in ihn setzte? Daß er den Paarungsstein berühren konnte, ohne Angst zu haben, daß er eines Tages verlockt sein könnte, den Thron seiner Mutter zu berühren, und auch dort als Reaktion darauf ein Licht sehen würde? Ein Licht, das sich zerstörerisch auswirken konnte, wenn er es ohne Übung, ohne Disziplin handhabte. Ein Licht, das zu bändigen er kaum fähig war. Er schüttelte den Kopf, unfähig, sein Verlangen verständlich auszudrücken.
Der Meister nickte und ließ den Edelstein in den Beutel zurückgleiten. »Es gibt nicht viel, was ich dir sagen kann, Danior Terlath. Der Meister, der mich unterrichtete, schnitt diesen Stein und sein Gegenstück. Er gab sie den Barohnas der Täler Terlath und Marlath. Die Barohnas gaben sie ihren Gatten, und einer der Gatten gab diesen dir. Er reagiert auf deine Berührung. Er gibt dir Hitze und Licht. Ich kann dir nicht sagen, was sein wird, wenn du ihn weiterhin berührst.
Vielleicht wirst du lernen, in den Geist der Person, die den anderen Stein besitzt, zu greifen. Vielleicht wird diese Person es lernen, in deinen Geist zu greifen. Vielleicht .wird keiner von euch beiden jemals mehr bewirken, als den Stein zum Glühen zu bringen.«
Daniors Herzschlag setzte kurz aus.
Die Person, die den anderen Stein besaß?
Er hatte nicht an den anderen Stein gedacht, an denjenigen, den Lihwa Jhaviir gegeben hatte. Die Vorstellung, daß jemand sein furchtbares Wunder teilte, ließ seine Haut abkühlen. In ihm rangen Besitzgier und Zweifel miteinander.
»Woher wißt Ihr, daß jemand den anderen Stein besitzt?« Hatte Jhaviir ihn getragen, als er fortritt? Hatte er ihn irgendwo auf seinen Wanderungen verloren? Wer könnte ihn gefunden haben? Danior rieb sich die Schläfen und versuchte, seine Gedanken zur Ruhe zu bringen. Sie stürzten zu schnell auf ihn ein, als daß er sie hätte prüfen und die unwichtigen aussortieren können.
Die Pupillen des Meisters schimmerten, sie waren jetzt geweitet. Eine schwache Linie erschien zwischen seinen Augenbrauen. »Vielleicht
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