Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
war. Er war nicht von einer Welt zur anderen geflogen. Ihn hatte niemand ohne Sprache und Erinnerung im Palastturm zurückgelassen. Er war noch nicht einmal auf der Weißmähne geritten.
Seine Kiefer preßten sich zusammen. Er wurde von seine Mutter, seinem Vater und seinen Schwestern in den Schatten gestellt. Sie blendeten ihn mit ihrem Licht. Und jetzt erzählte sein Vater ihm, er müsse an diesem Licht vorbeisehen, um seinen Weg zu finden. Sein Blick irrte zum Paarungsstein. Er spürte eine Welle der Bitternis. Der Stein war so nutzlos wie er. Der Edelsteinmeister hatte ihn geschnitten, um seine Mutter und Lihwa miteinander zu verbinden; aber sie hatten es vorgezogen, nicht miteinander verbunden zu werden. Sie hatten sich den Stein vom Hals genommen, und jetzt war er so trübe wie seine, Daniors, Zukunft.
Reflexhaft griff er nach dem geschliffenen Stein. Er schloß die Finger um ihn, bestrafte den Stein für seine eigene Verwirrung. Worte blockierten seinen Verstand, Worte, mit denen er seinem Vater weh tun könnte, Worte, mit denen er sich verteidigen könnte.
Der Rat hätte alle fünf Brüder nach Arnimi senden sollen. Er hätte sie zurückschicken sollen, bevor sein Vater der Gemahl seiner Mutter geworden war, bevor sie ihn empfangen hatte. Der Rat hätte ihn fortschicken sollen, als er geboren war. Er hätte ...
»Danior ...«
Danior biß die Zähne zusammen und schüttelte wütend den Kopf. Es gab keine Worte, um die brennende Hilflosigkeit, die er fühlte, zu zerstreuen. So starke Worte gab es nicht.
»Danior …«
Die Stimme seines Vaters klang fremd, drängend. Danior hob bestürzt den Kopf und löste zugleich die Finger. Er sah das Glühen zuerst in den Augen seines Vaters, von dort wurde es schwach zurückgeworfen. Ungläubig nickte er nach unten. Der Paarungsstein lag in seiner Hand, ein schwacher Schein war in seinem Inneren.
Sein Herzschlag setzte aus. Er vergaß zu atmen. Der Stein, der seiner Mutter gehört hatte. Der Stein, der nur unter ihrer Berührung lebendig werden sollte. Er fühlte seine Wärme. Überwältigt hob er den Kopf.
Das Blut war aus dem Gesicht seines Vaters gewichen. In seinen Augen sah Danior etwas, das er nie zuvor gesehen hatte, etwas, das ihn entsetzte.
Er mußte seinen eigenen Weg finden. Seine eigene Tradition schaffen. Seine eigene Legende aufbauen. Das waren die Dinge, die sein Vater ihn zu tun gedrängt hatte. Dies waren die Dinge, die ihm die Substanz und die Bedeutung einem Mannes geben könnten. Aber er wußte nicht, wie er es anstellen mußte, welchen Schritt er zuerst tun mußte, und in welche Richtung.
Er konnte es nicht abschätzen, aber in den Augen seines Vaters sah er das Glühen des Steins und den deutlichen Beginn einer Legende – seiner eigenen. Sie lag hier wie ein Samen, forderte ihn auf, und er war noch nicht bereit. Er war überhaupt noch nicht bereit. Er schaute auf den Stein und begann zu zittern.
3 Danior
Es war zehn Tage später, als Danior die überwachsenen Bergpfade in die wolkenlose Stille des Marlath-Tals hinabstieg. Verlassene Bäume standen in den Obstgärten, sie waren vom Frost angenagt und hatten ihre spärlichen Knospen gegen die Kälte geschlossen. Dämme warteten in steinerner Einsamkeit darauf, wieder instandgesetzt zu werden, und das Unkraut wucherte auf den Feldern. Die Pferche für die Tiere standen leer und schienen Danior der Schuld an ihrem Zustand anzuklagen.
Als er sich dem Mittelpunkt des Tales näherte, entdeckte er, daß die Steinhallen genauso verlassen waren wie die Pferche. Und er stellte fest, daß Lihwas Palast durch die grelle Helle der wuchernden Stengellampen entweiht worden war. Die Fenster waren offen geblieben, als die Menschen nach Lihwas Tod das Tal verlassen hatten, und die Stengellampen wucherten ungehindert in all den verlassenen Räumen. Ihr orangefarbenes Licht strahlte aus jeder Öffnung.
Danior näherte sich dem Rand der Plaza und wunderte sich kurz darüber, weshalb der Edelsteinmeister darauf bestanden hatte, daß sie sich in Lihwas Tal trafen. Er schaute sich unbehaglich nach allen Seiten um, dann schritt er über die dunklen Fliesenwege. Die Platte aus Sonnenstein, die Lihwa einst benutzt hatte, um das Sonnenlicht anzuziehen, ruhte im Zentrum der Plaza, ihre glänzende Oberfläche war nicht durch die Trümmer verunziert, die auf den Fliesenwegen verstreut lagen. Daniors Muskeln spannten sich, als er sich der Platte näherte, doch der Stein blieb schwarz. Ohne eine Barohna war der
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