Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
Waanas Herde wahrzunehmen. Als sie ihn erkannten, warfen sie die Köpfe und stießen tiefklingende Grüße aus, und die Fohlen und Jährlinge liefen ihm mit schlaksiger Anmut entgegen. Er blieb stehen und streichelte ihre Nacken, dann wanderte er weiter und ließ sich vom erdenen Grasduft und dem unveränderlichen Himmel berauschen. Und so war er unvorbereitet, als er sich einer Biegung des Wasserlaufes näherte und dort Waana fand, die über jemandem, der dort ruhte, Wache stand.
Er war noch weniger vorbereitet, als Waana die Schläferin anstupste und sie erwachte und aufstand. Er starrte eine ganze Weile – die sich bis in alle Zeiten auszudehnen schien - über das Wasser und glaubte, daß er nicht in der Lage sein würde, zu sprechen. Dachte, er würde nie mehr Verwendung für seine Zunge, seine Kehle, seine Stimmbänder haben.
Er wußte natürlich, wer sie war, wußte es nach einem Blick. Jhaviirs Tochter. Sie war ihm so ähnlich, wer sonst konnte es sein? Dunkle Haut, das Haar schwer und glatt: sie hatte die gleichen gebogenen Augenbrauen wie er, die gleichen rosafarbenen Fingernägel, die sich gegen die braune Haut abhoben. Und der Stein, den sie am Hals trug, der Stein ... Seine Finger schlossen sich um den Gurt des Packens, in dem er seinen eigenen Stein trug.
Aber so sehr sie ihm auch ähnlich war, so ähnelte sie ihm doch nicht ganz. Sie war mehrere Fingerbreit größer, und es lag eine Tiefe in ihren Augen, eine Dunkelheit, als sähe sie etwas, das sie sich weigerte, ganz zu erblicken. Und die Proportionen ihres Gesichts unterschieden sich auf subtile Weise von seinen. Jeder Zug war kräftiger, markanter. Als wenn ...
Er sog die Luft heftig ein. Als rührten die Schrammen auf ihrem Gesicht von den Krallen eines Minx her. Als hätte sie die Prüfung des Tieres angenommen – und sich verändert. Aber nicht ganz. Wäre die Verwandlung vollständig, hätte sie größer sein müssen. Die Tiefe in den Augen und die Kraft in ihren Gesichtszügen wären ausgeprägter gewesen. Und ihr Blick wäre so kühl gewesen wie der seiner Mutter.
Augen, die Feuer sehen,
so nannten die Talbewohner die Augen einer Barohna.
Statt dessen gab es eine momentane Unsicherheit in ihren Augen. Obwohl sie in ihrer Stimme nicht zu hören war. »Wer bist du?« Die Worte kamen einer Herausforderung nahe. Ihre Finger drückten den Stein an ihrem Hals und wurden weiß.
Der Stein leuchtete unter der Berührung nicht auf; Daniors Schultern entspannten sich. Zum erstenmal nahm er ihre Kleidung wahr, die langen, weiten Hosen, eng um die Knöchel geschnürt, die gefütterte Jacke. Er erkannte, daß ihre Kleider aus Pflanzenfasern gewebt waren, alles in Grautönen. Er leckte sich die Lippen; er wußte, daß ein Augenblick wie dieser niemals wiederkehrte; es bedrückte ihn, daß er keine Ahnung hatte, wie er antworten sollte. »Ich bin Danior Terlath. Du kommst von den Warmströmen«, sagte er endlich und war überrascht davon, daß sich die Worte so alltäglich anhörten und fast nichts von seiner Verwirrung widerspiegelten. Er hatte Jhaviirs Tochter gefunden. Und was sein Vater gesagt hatte, stimmte. Sie war ihm so ähnlich, daß sie Zwillinge hätten sein können. Und doch war sie eine Fremde, erschreckt durch seine Gegenwart und sein Erscheinen. Eine Fremde und so unsicher wie er.
Man merkte es daran, wie sie sich versteifte, wie sie ihre Brauen zusammenzog. Sie machte sich in der argwöhnischen Herausforderung in ihrer Stimme bemerkbar. »Woher weißt du das?«
»Meine Urgroßmutter hat mir erzählt, wie das Warmstromvolk sich kleidet«, sagte er; seine Gedanken rasten. Wie war es dazu gekommen, daß sie unter dem Fischervolk gelebt hatte? Hatte sie nur kurze Zeit dort gelebt, um sich zu versorgen? Oder viel länger? Und ihr Vater ... »Sie hat sie gesehen, als sie mit den Herden den Strom durchquerte.«
Die Farbe wich aus ihrem Gesicht, aber sie faßte sich schnell und schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Du bist kein Wächter. Es gibt keine Männer unter den Wächterinnen. Sie bringen keine Söhne zur Welt. Das weiß ich.«
Nun war es an ihm, die Stirn zu runzeln. Er hatte sich als Danior Terlath vorgestellt. Wußte sie denn nicht, was es bedeutete, wenn beide Namen verbunden waren? Daß er Danior von der barohnalen Familie vom Terlath-Tal war?
Aber wenn sie lange Zeit am Ufer des Warmstroms gelebt hatte, kannte sie vielleicht die Bräuche der Täler nicht. Es wurde berichtet, daß das Fischervolk einsiedlerisch war. Daß seine
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