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Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied

Titel: Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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Flanken der Stute hoben und senkten sich, und Keva wußte, daß auch sie es hörte. Das Blaue Lied bewegte sich durch alle hindurch und wob einen fremden Zauber. Es wurde vom Sonnenlicht gespeist, zwiefach gespiegelt, einmal von den Monden, dann vom Wasser. Es wurde vom Wind gespeist. Aber es hatte etwas Fremdartiges an sich, eine Eigenschaft, die nicht gänzlich von dieser Sonne kam, nicht vom Wind, der über das Grasland wehte.
    Also gehörte das Lied zu einem anderen Land. Es kam aus einem fernen Ort, wo die Sonne heißer schien, doch der Wind sanfter blies. Keva verlor sich so vollständig in ihm, daß sie zuerst gar nicht bemerkte, daß die Rotmähnen völlig ruhig geworden waren, wie aus Stein gemeißelt. Die Stute stieß einen heiseren Warnruf aus, während ihr Körper so bewegungslos verharrte wie die der anderen.
    Das Blaue Lied schlüpfte davon. Keva hob den Kopf und blickte verwirrt zu den regungslosen Tieren. Der Atem der Stute rasselte wieder rauh in ihrer Kehle. Die milchigtrübe Augen starrten unverwandt zum Rand der versammelte Herde.
    Keva folgte der Richtung ihres Blickes und sah eine drahtige, wuschelhaarige Gestalt, deren Gesicht im Schatten lag Sie fror.
Der Minx.
Sie hatte den Minx ganz vergessen. Sie wollte unwillkürlich die Hand an ihre verletzte Wange führen. Sie beherrschte sich, denn sie wußte, daß sie sich nicht bewegen durfte. Sie konnte die rasiermesserscharfen Krallen nicht erkennen, aber sie vermutete, daß sie von deren Fähigkeiten bereits gekostet hatte.
    Der Minx schlüpfte zwischen den regungslosen Tieren hindurch, schwarzschnäuzig, heimtückisch, anmutig. Inmitten der seidigen Haarlocken, die sich um sein Gesicht wanden, sah Keva Augen, in denen ein spöttisches, bernsteinfarbenes Glitzern lag. Mit einem Grinsen hielt das Tier an und trieb eine einzelne, scharfe Kralle in die zarte Nase einer jungen Stute. Sie rührte sich nicht, sie blinzelte nicht einmal. Der Minx wiegte sich auf den gespreizten Füßen, wie aus Spaß, dann schnellte er vorwärts und schlitzte das Ohr eines Hengstes mit übertriebener Präzision auf. Der Hengst wich nicht nach hinten, zitterte nicht, verdrehte nicht einmal die Augen. Das Blut tropfte auf den gestampften Boden.
    Aber es gab Fohlen in der Herde, und Keva beobachtete angespannt, wie der Minx sich einem von ihnen näherte Obgleich sich keines der erwachsenen Tiere regte, spürte sie doch deren Sorge. Der Minx schnappte nach dem silberfelligen Fohlen und entblößte kichernd seine Krallen. Keva wußte, wenn das, was Par erzählt hatte, den Tatsachen entsprach, brauchte das Fohlen nur mit den Augen zu rollen, und der Minx würde sein quälendes Spiel beenden und töten.
    Keva hörte sich unwillkürlich aufseufzen. Auf den Laut hin reagierte die Stute mit einem warnenden Murren. Der Minx bewegte langsam die gespreizten Krallen auf den Kopf des Fohlens hinunter, die beiden längsten näherten sich den Augen des Fohlens. Kevas Lider zuckten.
    Sie konnte nicht hinschauen. Dies war keine von Pars Geschichten. Sie konnte die Angst des Fohlens deutlich spüren, als wäre es ihre eigene, und sie regte sich fast ohne nachzudenken, als besäßen ihre Muskeln eigenes Leben. Sie ergriff den Spieß und stellte sich breitbeinig hin, sie ignorierte den Schmerz in ihrem verletzten Knie, ignorierte die schwache Stimme der Vernunft.
    Der Minx frohlockte, zog seine Krallen von dem Fohlen zurück und sprang mit einem federnden Satz vorwärts. Seine Locken flatterten, und das Entzücken in seinen Augen leuchtete unverkennbar. Er sandte Keva herausfordernde Grimassen übers Wasser, er wartete darauf, daß sie sich erneut bewegte.
    Unwillkürlich erstarrte Keva, ihre Muskeln verkrampften sich. Das Spiegelbild des Minx fiel übers Wasser, er grinste. Fr gluckste heiser, spöttisch, und Keva begriff, daß sich das grausame Tier ein anderes Opfer auswählen würde, wenn sie es nicht erwischte.
    Sie zitterte, ihr Herz wurde kalt. Alles, was sie über die Jagd wußte, hatte sie aus Pars Erzählungen. Sie war nie etwas Gefährlicherem nachgepirscht als einem Borkenkäfer. Sie wußte nicht einmal, ob sie die Spitze des Spießes durch lebendes Fleisch würde treiben können.
    Der Minx ging auf geschmeidigen Beinen die Stromseite entlang, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er wartete ungeduldig.
    Er lauerte darauf, daß sie sich rührte, lauerte auf ihr Zeichen, daß die nächste Phase des Spiels beginnen konnte. Keva überprüfte ihre Finger, versuchte sie um den Schaft des

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