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Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied

Titel: Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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wir einst gelaufen sind. Sie müssen mit hämmernden Füßen und berstenden Lungen rennen. Die Pollen rufen, und sie müssen sich einer Prüfung unterziehen. Sie müssen feststellen, wer von ihnen stark und wer schwach ist, wer klug und wer dumm, wer großzügig und wer egoistisch ist. Nur durch das Rennen können sie ihren Platz in der Herde erfahren.
    Und ihr, Mütter, ihr, Väter, ihr Grandsires und Granddames und ihr älteren Geschwister – ihr müßt sie für das Rennen freigeben. Ihr müßt sie ihren Platz finden lassen, selbst wenn einige von denen, die ihr liebt, herausfinden werden, daß ihre Herzen nicht so stark sind, wie sie sein müßten, selbst wenn einige, die ihr schätzt, erfahren werden, daß sie noch nicht fähig sind, ihrer Herde Fohlen zu schenken, selbst wenn einige von ihnen durch Erschöpfung, andere durch die Raubtiere fallen werden, die ebenfalls durch die Pollen gerufen werden, genauso wie unsere Jährlinge.
    Höre, meine Herde, das Rennen dient der Stärke unserer Herde. Wir müssen seine Regeln
zu
unseren Regeln machen. Wie sehr wir auch den Schwachen lieben, wir können ihm nicht erlauben, zusammen mit dem Starken fruchtbar zu sein. Wie sehr wir auch den Dummen hegen, wir können ihm nicht erlauben, Gefährten zu finden und mehr Dumme in unsere Herde
zu
bringen. Wir haben Wächterinnen, die sich unter uns aufhalten und mit uns nach Raubtieren Ausschau halten. Wir haben Wächterinnen, die uns auf vielerlei Weise beistehen. Und das ist gut. Nicht immer waren diese Frauen unter uns. Doch selbst in ihrer schützenden Nähe
müssen wir unserer eigenen Stärke dienen. Weil wir nur in der Stärke Frieden finden werden und nur im Frieden weiterbestehen können, so wie wir all die Abertausende Jahre bestanden haben.
    Hört, meine Jährlinge ...
    Mit Mühe entzog sich Keva dem Unterricht, den Stein fest umklammert.
Der Wald.
    Ihr Vater war zum Wald geritten, um seine Weißmähne zur Paarung zu bringen. So hatte es Oki ihr gesagt. Und jetzt liefen die Jährlinge dorthin, um ihre Tauglichkeit zu prüfen. Sie wußte nicht, wo der Wald war, außer daß er im Süden lag, doch wenn sie den Jährlingen folgen würde ... Sie drückte den Stein zu sehr, und er schnitt ihr in die Hand. Sie ließ ihn los und preßte die Hände wieder gegen den Boden, um nach dem zu greifen, was sie erfahren konnte.
    Als die Monde von der Oberfläche des Wassers fortgewandert waren und die Stimme der Stute verklang, tauchte Keva langsam aus dem Unterricht hervor. Sie kam heraus wie aus einem fremden Land, verwundert. Sie blickte hoch und stellte fest, daß Danior sie betrachtete.
    Er schaute erwartungsvoll mit ihren Augen. Die Stille des Unterrichts fiel beinahe augenblicklich von ihr ab. Das Netz öffnete sich vor ihr. Alle Fragen, alles Ungeklärte, kehrte zurück.
Danior.
Ihr so ähnlich, daß er ihr Zwilling hätte sein können. Sie konnte jede Stimmung lesen, die auf seinem Gesicht erschien. Die Anspannung seiner Haut, der Muskeln, seine verschleierten Augen – sie hatte ein Gespür dafür, welche Gemütsbewegung hinter jedem noch so kleinen Wechsel des Ausdrucks lag, eben weil sie ihm so ähnlich war.
    Aber sie wußte nicht, weshalb er sie wie eine Erscheinung angestarrt hatte, als sie sich das erste Mal begegnet waren. Sie wußte nicht, weshalb er so bestrebt schien, ihr bestimmte Dinge zu sagen, und andere zurückhielt. Sie wußte nicht, warum sie einander so ähnlich waren.
    Sollte sie ihn fragen? Irgend etwas hielt sie davon ab. Vielleicht widerstrebte es ihr, die Ungeduld in seinen Augen auszunutzen, während sie daran dachte, ohne ihn aus dem Lager zu schlüpfen und zum Wald zu gehen. Um ihren Vater dort zu suchen.
    »Hast du ihn gehört? Den Unterricht?«
    Sie berührte mit tastenden Fingern die Schläfen und stellte fest, daß sie nicht reden wollte. Sie wollte nur nachdenken, über das Rennen, über den Wald, über das, was sie tun müßte.
    »Ja«, sagte sie kurzangebunden und war augenblicklich betrübt über die Enttäuschung, die sie in seinen Augen sah. Wäre es ein Treuebruch, wegzugehen, ihn im Stich zu lassen? Welche Forderungen hatte er an sie, außer der Erklärung für ihre beunruhigende Ähnlichkeit?
    Die Forderung einer Person, die eine andere genährt und ihr geholfen hatte.
    Sie fühlte sich nicht wohler, als er sich vor dem Ton in ihrer Stimme zurückzog und nicht weiter drängte. Er musterte sie nicht einmal aus den Augenwinkeln, wie er es zweifellos tun wollte. Versuchte nicht, ihre Stimmung

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