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Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied

Titel: Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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unterdrücken.
    Nach und nach löste sich die dunkle Linie, die sich vom Westen her näherte, in einzelne Tiere auf. Jährlinge rannten silberfellig im Schein der Abendsonne, warfen die Köpfe hoch und schlugen mit den Schwänzen. Sie liefen ungeduldig, schnaubten, wieherten und schossen aufeinander zu, um im letzten Augenblick beiseite zu springen.
    Aus den Schatten wuchsen einzelne Jährlinge, die über die grasbewachsene Ebene liefen. Manche rannten im Zickzack und schwungvoll vor den anderen hin und her. Andere liefen verbissen, als hätte die Anstrengung ihnen bereit Schaden zugefügt. Einige unterbrachen ihren Lauf hä und rangen nach Luft. Doch alle liefen.
    Alle liefen nach Süden. Dem Wald entgegen, wo blühende Bäume Pollen in die Luft entließen. Die Jährling stürmten vorbei, die silbernen Felle schimmerten, und dann waren sie nicht mehr zu sehen. Sie hinterließen nur zertrampelte Pflanzen und festgestampften Boden.
    Keva war überrascht, daß der Rhythmus des Rennens si noch lange, nachdem die Jährlinge fort waren, in ihre Herzschlag fortsetzte. Sie lehnte sich gegen ihren Spieß, benutzte ihn als Wanderstab und schritt weiter in die Richtung, die auch die Jährlinge genommen hatten. Während si wanderte, fühlte sie, daß sie Teilnehmer eines Rituals war, eines Rituals, das sie mehr mit dem Herzen als mit dem Verstand begriff. Gelegentlich zitterte die Erde noch, und sie er- kannte weitere dunkle Linien am Horizont. Einmal stürmt eine Welle aus der Richtung von Tehlas Lager an ihr vorbei. Später näherten sich Tiere aus entfernteren Gebieten der Ebene. Sie liefen mit schweißbedeckten Flanken und Schaum vor den Mäulern vorüber, liefen vorbei mit immer, weniger von der Begeisterung der früheren Läufer. Sie kamen von weither, ihre Reserven waren fast erschöpft.
    Einige werden fallen …
Eine Wolke wanderte an der späte Nachmittagssonne vorbei, und Keva dachte an die Nachtschatten des Waldes, an die Raubtiere, die dort lauerten, angelockt von denselben Pollen, die auch die Jährlinge riefen. Keva verflocht ihre Finger in Waanas Mähne und begann, sich zu wünschen, die alte Stute nicht mitgenommen zu haben. Sie wünschte sich, herauszufinden, wie sie das Tier wieder zu seiner Herde zurückschicken konnte.
    Kurze Zeit später, als sie den ersten gestürzten Jährling mit zuckenden Hufen im zerstampften Gras fand, wünschte sie es sich noch stärker. Sie eilte an die Seite des Tieres, erschreckt von der Art, wie es da lag, von seinem krampfhaften Muskelzucken. Es atmete schwach, der Herzschlag war kaum noch zu hören, als Keva das Ohr auf seinen Brustkorb preßte. Dennoch fand sie keine Anzeichen für eine Verletzung.
    Sie bettete den Kopf des jungen Tieres in ihren Schoß, strich ihm über das Fell und versuchte, es anzuheben, damit es aus ihrer Hand trinken konnte. Statt dessen versteiften sich seine Beine im letzten Krampf, der Kopf erschlaffte, und die Augen wurden glasig. Keva stand mit Zornestränen in den Augen auf und drückte fest den Stein in ihrer Hand. Weiches Silberfell und schnelle Füße – wenn das Fohlen bei seiner Herde geblieben wäre, wenn es nicht über seine Kräfte hinaus gedrängt worden wäre zu laufen ...
    Waana stupste sie an und schnaubte sanft. Keva drehte sich um und entdeckte in den Augen der Stute etwas, das sie nicht begreifen konnte, ein schmerzliches Mitgefühl. Doch statt es zu honorieren, ließ Keva Waana ihren Zorn über den Tod des Jährlings spüren. »Geh zurück! Ich bin nicht dein Fohlen! Geh zu deiner Herde zurück!« Sie wollte nicht von Waana begleitet werden, wenn die Wanderung dorthin für eine alte Stute zu weit war, wenn sie stürzen könnte, so wie der Jährling gestürzt war. Keva stampfte mit dem Fuß auf. »Du sollst verschwinden ... verstanden.« Rasch wandte sie sich um und humpelte davon; heiße Tränen liefen ihre Wangen hinab.
    Trotz des Verweises folgte die Stute ihr, mit hängendem Kopf, die milchigen Augen glänzten wieder matt. Schließlich wurde es dunkel, und Keva näherte sich einem verlassenen Felssturz, der aussah, als wäre er gewaltsam über den Weg geschleudert worden. Sie hielt an, lehnte sich schwer gegen den Spieß; ihr Knie schmerzte. Zwei schroffe Felsspitzen hoben sich gegen den abendgrauen Himmel ab, ihre zerklüfteten Konturen spiegelten sich in einem klaren Teich zu ihren Füßen; um den Teich herum lagen Hunderte von Felsblöcken und gezackten Steinen verstreut, als hätte sie jemand in seiner Wut

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