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Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied

Titel: Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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und deren Ursache einzuschätzen. Sie schlossen sich den Wächterinnen an, die schweigend ins Lager zurückgingen. Tehla hatte eine Öllampe brennen lassen. Sie schlief bereits auf der Lagerstatt, die dem Feuer am nächsten war. Danior bestand darauf, daß Keva das andere Lager nahm. Er rollte sein Bettzeug auf dem Boden in der Nähe der gebogenen Wand aus.
    Er schlief bald ein. Doch Keva lag mit offenen Augen auf der gepolsterten Lagerstatt und versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Endlich, zu unruhig, um still liegen zu bleiben, stand sie auf und schlüpfte aus dem Kefri.
    Die Gassen des Lagers waren leer. Die Monde hingen tief am Horizont. Als Keva sich vom Kefri entfernte, erhob sich Waana aus den Schatten und folgte ihr schnaubend. Hinter dem Lager schliefen die Hengste und Stuten im Gras, die jungen Fohlen an ihrer Seite zusammengerollt. Doch die Jährlinge bewegten sich unruhig, liefen, tänzelten, stampften mit den Füßen. Mondlicht strich über ihr silbernes Fell und wischte die Schlaksigkeit fort, stattete sie mit flinker Anmut aus.
    Keva schaute ihnen zu und zitterte bei dem Gedanken, daß sie in dieser Nacht in den Jährlingen die schimmernde und nervöse Grazie der Weißmähne ihres Vaters sah. Die Jährlinge konnten nur entfernte Vettern der Weißmähne sein. Aber heute nacht schienen sie ein Versprechen abzulegen, das sie nicht verstand. Keva griff nach dem Stein an ihrem Hals und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Ihr Vater hatte seine Weißmähne mit in den Wald genommen. Das war vor Jahren geschehen, aber vielleicht konnte sie im Wald etwas erfahren, auf irgendeine Art, selbst jetzt noch. Vielleicht kehrte er noch einmal dorthin zurück. Vielleicht würde sie dort ein Zeichen finden – oder jemanden treffen, der ihn gesehen hatte. Unschlüssig biß sie sich auf die Lippen. Fortgehen, wo es hier so vieles gab, was sie nicht verstand? So viele unbeantwortete Fragen? So viele Bruchstücke, die sie nicht zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfügen konnte? Fortgehen mit dem Wissen, daß sie Danior dadurch verletzte?
    Waana kam auf sie zu. Nachdenklich wanderte Keva weiter. Schließlich lenkten sie ihre Füße zum Unterrichtsteich. Sie stieg das schräge Ufer hinab und stellte sich ans Wasser. Waana beugte sich vor, um zu trinken; Keva kniete an ihrer Seite.
    Sie schöpfte mit der Hand Wasser, in der Absicht, es zu trinken. Aber sie hob die Hand nie zum Mund. Statt dessen starrte sie nach unten, plötzlich unfähig, sich zu rühren. Ihr Spiegelbild sah ihr von der Teichoberfläche entgegen. Ihr Spiegelbild, doch mit einem Unterschied. Dies war nicht das Gesicht, das sie so oft erblickt hatte, wenn sie in stillen Weihern badete. Ungläubig beugte sie sich über das Wasser und sah eine neue Tiefe in ihren Augen, eine feine, neue Proportionierung der Gesichtszüge. Sie traten schärfer hervor, kühner. Die Nase ragte mehr heraus, der Mund war breiter. Ihre Augen saßen tiefer. Dennoch war die wirkliche, körperliche Veränderung so subtil, daß sie sich beinah fragte, ob sie sich die Verwandlung nur einbildete.
    Sie hatte sich nicht eingebildet, daß sie einen Minx getötet hatte. Hatte sich nicht eingebildet, später im Schlaf eine Veränderung zu spüren. Und ihre Mutter war eine Barohna gewesen. Sie konnte nichts dagegen halten, wenn beide, Tehla und Danior, sagten, daß es so war.
    Diese Geschichten, die Par erzählt hatte ...
    Aufgescheucht zog sie sich vom Wasser zurück. Sie schlang die Arme um ihren Körper, plötzlich fröstelte sie. Ihr war kalt, und sie war erschrocken. Und entschlossen. Grimmig entschlossen.
    Sie konnte nicht hierbleiben. Hier schlüpfte ihr die Wirklichkeit davon und nahm ihre Identität mit sich fort. Rasch glitten ihre Finger unter den blauen Stoffstreifen am Hals. Bestimmt hatte ihr Vater den Stein und den Stoffetzen nicht nur als Andenken, sondern als Botschaft hinterlegt, als er sie bei Oki zurückgelassen hatte. Nicht etwa die Botschaft, daß sie durch die Berge und die Ebene wandern sollte, um Dinge zu erfahren, die sie nicht wissen wollte, oder daß sie sich in einer Weise verändern sollte, die sie nicht verstand. Sondern daß sie nach ihm suchen sollte, wenn er nicht zu ihr zurückkehrte.
    Oder sagte sie sich das nur, weil sie sich vor dem Gesicht fürchtete, das sie im Teich gesehen hatte? Weil sie sich vor dem fürchtete, was hinter diesen veränderten Zügen liegen mochte?
    Danior – aber sie nahm nicht an, daß er sie verstehen würde, wenn sie ihm

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