Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
Stirn tastete er sich durch das komplizierte Flechtwerk seiner Gedanken. Sie hatte ihre Knie keine Zeit gelassen zu heilen, und so würde sie nur langsam vorankommen, selbst wenn Waana sie begleitete.
Wenn er wüßte, welche Richtung sie eingeschlagen hatte, könnte er sie einholen.
Aber er wußte es nicht. Und die Ebene erstreckte sich weit in alle Richtungen. Er schaute umher und blinzelte gegen die Sonne. In den Weidegründen war es still. Die Jährlinge hatten sich am frühen Nachmittag auf den Weg gemacht, wiehernd und stampfend. Nur die erwachsenen Rotmähnen und die jüngeren Fohlen waren zurückgeblieben. Der Duft der Pollen war nur noch ein kaum wahrnehmbares Prickeln in der Luft. Warum, fragte er sich bitter, war es so wichtig zu wissen, wohin sie gegangen war? Wünschte er sich, bei ihr zu sein?
Offensichtlich war es für sie nicht so wichtig, bei ihm zu sein. Sonst wäre sie nicht fortgegangen – und das ohne ein Abschiedswort. Denn das war die Kehrseite dessen, was er fühlte, nachdem sie fort war: eine kalte, einsame Wut, wie eine Faust, die sich in seiner Brust verkrampfte. Nervös rieb sich Danior die Schläfen und versuchte, seine Gedanken zu klären. Sie hatten sich getroffen und waren zusammen gegangen; er hatte ihr beigebracht, wie man dem Unterricht lauschte. Und sie war fortgegangen.
Es war nicht genug gewesen. Sie hatten sich kaum berührt. Er hatte kaum angefangen zu verstehen, was es bedeutete, daß sie einander so ähnlich und doch so verschieden waren. Was es bedeutete, daß sie einen Minx getötet hatte, daß er einen Paarungsstein zum Glühen bringen konnte, daß sie so lange gelebt hatten, ohne einander zu kennen, und sich dann begegnet waren. Durch Zufall. Nur durch Zufall.
Den Stein benutzen? Gab es denn einen anderen Weg, wenn sie jede beliebige Richtung eingeschlagen haben konnte? Wie lange konnte er noch hier stehenbleiben, erschrocken und wütend, und nichts unternehmen? Noch zögerte er; sein Kopf schmerzte von den ungelösten Fragen, bevor er den Weidegrund verließ und zum Lager zurückkehrte.
Heute war Tehla nicht zur Herde gegangen. Sie arbeitete mit drei anderen Wächterinnen im Milchkef; die mageren Arme bis zum Ellbogen voll sahniger Milch; Kübel mit süßen Milchspeisen dampften um sie herum. Dorthin ging Danior, nachdem er Schlafdecken und Spieß aus dem Kefri geholt hatte. »Hab Dank für den Schutz deines Kefri, Tehla«, sagte er förmlich. »Ich muß mich jetzt auf den Weg machen.«
»Du willst nicht bis zum Unterricht bleiben, Danior Terlath?« fragte Mirala, die jüngste der vier Wächterinnen. Vor einem Jahr war sie noch Wächterinnentochter gewesen, und viel von deren Lachen war noch in ihren Augen. Sie neckte, ihn damit und zeigte ihre schimmernden Zähne.
»Nein«, sagte er kurzangebunden. »Ich gehe zu meiner Urgroßmutter.« Eine Lüge, und er merkte durch Tehlas teilnahmsloses Nicken, daß alle es erkannt hatten. Er wurde rot. Warum konnte er nicht einfach die Wahrheit sagen? Daß Keva verschwunden war und er sie wiederfinden mußte. Daß er Dinge von ihr erfahren mußte, daß er beabsichtigte, sie zu erfahren. Etwas hielt ihn davon ab, es laut zu äußern. Er wandte sich abrupt ab.
Doch bevor sie ihn ziehen ließen, mußte er Käse und frischgebackenes Brot in sein Bündel stopfen. Und Mirala erklärte ihm lachend, daß sie ihn nächstes Jahr, wenn sie ihr erstes Pfluggespann zum Tal Terlath bringen würde, im Obstgarten treffen wollte, und die Röte in seinem Gesicht verstärkte sich. Aber nur deshalb, weil es ihn verlegen machte, daß sie damit andeutete, er solle der Vater ihrer ersten Tochter werden ... Er schloß sein Bündel, verließ fluchtartig die Hütte und eilte die schmalen Gassen hinab.
Ihm war klar, daß keine Hoffnung bestand, Kevas Spuren im Gras zu entdecken. Die Jährlinge waren überall umher-getrampelt, bevor sie sich endgültig nach Süden gewandt hatten. Aber da er jede Richtung einschlagen konnte, wählte auch er den Süden. Vielleicht war es nur der schwache Pollenduft, der ihn anzog. Vielleicht aber war es Instinkt.
Er öffnete sein Bündel nicht eher, als bis er das Lager weit hinter sich gelassen hatte. Und er zog nicht eher den Stein aus dem samtenen Beutel, bis niemand mehr zu sehen war. Er hielt den Stein in der Hand und verspürte quälende Zweifel. Er hatte Barohnas Paarungssteine tragen sehen, die so hell glühten, daß das Licht in seinen Augen geschmerzt hatte. Seiner gab nur ein schwaches Licht von sich, als
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