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Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied

Titel: Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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in der gleichen Minute um und sahen die Weißmähne mit stampfenden Hufen fliehen. Der Junge starrte ihr nur einen Augenblick hinterher, dann überwand er seine Lähmung. Sein Gesicht verzerrte sich vor Angst, und er lief in die entgegengesetzte Richtung.
    Keva blickte zuerst dem einen, dann dem anderen nach. Langsam wich die Anspannung aus ihren Muskeln, und sie schaute um sich, versuchte wieder auf den Boden der Realität zu gelangen. Erdbrocken waren herausgerissen und überallhin geschleudert worden. Als sie sich der rohen Wunde in der Erde genähert hatte, blickte sie betäubt nach unten. Das Mondlicht erreichte nicht den Boden der Wunde, aus der das Gestein herausgerissen worden war.
    Die Steine ... Sie starrte dorthin, wo sie jetzt lagen. Sie hätte sich einreden können, daß sie von selbst in die Luft geflogen waren. Aber sie wußte es besser. Sie hatte sie empor geschleudert. Irgendwie. Etwas in ihr hatte sich verändert, als sie den Minx getötet hatte, und heute nacht hatte sich wieder etwas verändert. Und sie hatte die Erde aufgerissen und die Felsbrocken waren geflogen. Nicht auf ihren Befehl hin, sondern in Vollstreckung ihres Willens, ihrer Wut. Wenn sie nicht rechtzeitig bemerkt hätte, daß sie auf ein Menschen statt auf einen Minx zuflogen, hätten die Felsbrocken den Jungen zerschmettert.
    Keva schüttelte sich und versuchte, ihrer zunehmende Betäubung durch den Schock Herr zu werden. Sie muß nachdenken. Sie mußte es begreifen. Waren Pars Geschichten wahr? War sie zu einer Barohna geworden, als sie den Minx getötet hatte?
    Hätte es Danior nicht gesehen, wenn es so war? Hätte er es ihr nicht gesagt?
    Aber er hatte ihr auch nicht gesagt, daß er den Namen ihres Vater kannte, nicht absichtlich. Er hatte ihr nicht gesagt, daß er etwas über ihre Mutter wußte, nicht bevor Tehla von ihr gesprochen hatte. Und er hatte sich zögernd und vorsichtig verhalten. Weil er erkannt hatte, was sie war?
    Ihr Verstand arbeitete dumpf. Wenn es das bedeutete, eine Barohna zu sein, würde sie die Erde erneut aufreißen? Wenn sie sich bedroht fühlte oder wütend war? Wenn sich jemand von hinten wortlos näherte, könnte sie ihn dann unabsichtlich zerschmettern, bevor sie Zeit hatte nachzudenken?
    Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Erschöpft sank sie zu Boden und ließ den Kopf gegen einen Baumstamm fallen. Sie umklammerte den Stein wie ein Amulett gegen die Verwirrung, doch die Verwirrung blieb. Dort saß sie; der Körper durch die Erschütterung geschwächt, der Verstand überwältigt. Sie saß dort, während die Sterne den Himmel übersäten. Sie saß dort und weinte nicht, obwohl ihr danach zumute war. Sie hatte Angst davor, daß die Tränen auf ihren Wangen zu Stein würden.
    »Oki, ich bin nicht hart«,
flüsterte sie.
»Du hast mir unrecht getan. Ich bin überhaupt nicht hart.«
Und wenn sie nicht hart war, wie konnte sie dann eine Barohna sein? Sie versuchte, in dieser Frage Trost zu finden, aber er blieb aus.
     

7 Danior
    Es war bereits Nachmittag, als Danior sich eingestand, was sein Herz bereits wußte – daß Keva fort war. Er stand am Rand des Lagers und spürte die unermeßliche Weite der Ebene wie einen Kloß im Magen, wie einen Schmerz im Kopf, wie eine hungrige, Übelkeit und Schrecken erregend Leere. Niemand hatte sie gehen sehen. Niemand wußte, welche Richtung sie eingeschlagen oder wann sie gegangen war. Aber sie war fort, und sie konnte überall sein.
    Sie war gegangen, um die Suche nach ihrem Vater fortzuführen. Dessen war er sich sicher. Sie hatte erfahren, daß Vater weder in den Bergen noch in der Ebene gesehen worden war. So hat sie ihre Suche an andere Orte geführt.
    Aber wohin? Sie kannte sich kaum in der Ebene aus. Wie konnte sie erwarten, ihren Weg darüber hinaus in anderen Länder zu finden?
    Und welche anderen Länder gab es noch? Den Warmstrom, die Rauhen Länder, die Seengebiete, die Wüste. befeuchtete die Lippen und rieb sich den Nacken, wo di Muskeln sich stark zusammengezogen hatten. Die Rauhe Länder, die Seengebiete – dort lebte niemand. Wußte sie das? Aber die Wüste – wollte sie in die Wüste gehen? Wußte sie überhaupt, wo die Wüste lag? Und hatte sie von de Clansmännern gehört? Seine Fäuste ballten sich. Hätte er sie doch nur gewarnt. Aber wie hätte er wissen sollen, daß sie gehen würde, ohne es ihm zu sagen; einfach gehen und ihn verwundert zurücklassen?
    Verwundert? Nein, dieses tiefe Gefühl der Angst war mehr als das. Mit gerunzelter

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