Sternenzitadelle
entdeckte aber nur ein schmales blaues Band zwischen schroffen braunen und ockerfarbenen Felsformationen.
»Warum müssen einhunderttausend Menschen sterben, damit ich leben kann?, fragte sie sich. Das Entsetzen auf Harps Gesicht werde ich nie vergessen.
»Wie viel Zeit haben wir noch?«, fragte Gil ungeduldig.
»Zehn Minuten …«
»Und die Wucht der Explosion wird Ghë nicht treffen?«
Ghë glitt in den Flugkörper. Sie wurde nur von vier Personen begleitet. Gil und der Techniker trafen die letzten Vorbereitungen in der röhrenförmigen Abschussrampe. Die anderen standen in den Gängen und hielten sich, eine lange Kette bildend, an den Händen – eine Kette, die sich über vier Raumschiffe erstreckte.
Eine fast feierliche Gelassenheit hatte alle Menschen ergriffen,
sogar Verzweiflung und Angst schienen vergessen zu sein. Alle stimmten die Hymne der Rückkehr an …
»Das weiß ich nicht«, flüsterte Harp, der seinen Vorschlag nun bereute.
Trotzdem erledigte er die Startvorbereitungen mit akribischer Sorgfalt, programmierte die Flugbahn zur Erde, das automatische Öffnen des Fallschirms und die Sauerstoffzufuhr.
Gil grüßte die Erwählte ein letztes Mal. Sie lächelte ihn an, weinte nicht, aber sie hatte große Schuldgefühle. Der Gesang der Zurückbleibenden übertönte den Motor des Fluggeräts.
Dann sah sie, wie ihre Begleiter sich zurückzogen und die runde Tür der Schleuse geschlossen wurde. Gleich darauf hatte sie das Gefühl, sich mit großer Geschwindigkeit zu bewegen. Vom Motor angetrieben, entfernte sie sich schnell von dem Raumschiffzug, einer lang gestreckten grauen Masse, die in ihrem Gesichtsfeld immer kleiner wurde, bis sie gänzlich verschwand. Sie näherte sich der Erde.
Ein überwältigendes Gefühl der Einsamkeit stieg in ihr auf.
In dem Moment erschütterte eine gewaltige Explosion den Orbit. Der Motor ihres Fluggeräts begann zu stottern. Gleich darauf kam es zu mehreren kleineren Explosionen. Und als Ghë sah, wie brennende Wrackteile der Raumschiffe wie Kometen am dunklen Himmel verglühten, begriff sie, dass sie die einzige Überlebende eines Volkes im Exil war, der einzige Mensch, der helfen konnte, El Guazers großen Traum zu verwirklichen.
Der Flugkörper näherte sich der Erde jetzt mit großer Geschwindigkeit. Ghë spannte intuitiv ihre Muskeln an, um
sich auf den Schock vorzubereiten. Sie hatte Angst, dieses Gehäuse könne beim Aufprall zerbrechen und sie sterben, noch ehe sie den Boden betreten hatte. Das Atmen wurde immer mühsamer und die Hitze in diesem engen Raum immer unerträglicher, sie war schweißgebadet. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Vielleicht ist das der Tod, dachte sie noch, ein schmerzloses Hinübergleiten in die Anderswelt. Da werde ich meine Eltern, meine Schwestern, Gil und meine Mitstreiter wiedersehen … Und sie werden sich umsonst geopfert haben …
Dann wurde sie ohnmächtig.
Als sie wieder zu sich kam, stellte sie fest, dass der Schock des Aufpralls weit weniger heftig war, als sie vermutet hatte. Das Gerät rollte einen Hang hinunter, prallte gegen einen Fels und kam zum Stillstand.
Ghë wurde derart durchgeschüttelt, dass sie ein paar Minuten brauchte, bis sie wieder klar denken konnte. Sie hielt sich an die Instruktionen des Technikers Harp und öffnete die Verriegelung. Das Sichtfenster klappte knirschend auf, und sie spürte sofort den warmen Wind auf ihrer Haut, einen duftenden, köstlichen Wind voller Leben, der in nichts mit der Ventilation an Bord des Weltraumzugs zu vergleichen war.
Als sie aus dem Fluggerät kroch, wurde ihr schwindelig. Die plötzliche Sauerstoffzufuhr hatte sie in einen euphorischen Zustand versetzt, in eine Art Trunkenheit. Sie war außerstande, ihre Bewegungen zu koordinieren, und musste sich erst kriechend und auf allen vieren fortbewegen und sich etwas erholen.
Meine Ankunft auf der Erde ist weitaus weniger spektakulär gewesen, als ich mir vorgestellt habe, dachte sie.
Anstatt inmitten meiner Schwestern und Brüder diesen Planeten hoch erhobenen Hauptes zu betreten, krieche ich auf dem Boden herum und habe mir Hände und Füße aufgeschürft.
Ghë stand auf, schwankte und musste sich auf das Fluggerät stützen, sonst wäre sie hingefallen. Das helle Licht tat ihren Augen weh; sie tränten und sie konnte nur verschwommen ihre Umgebung erkennen: eine karstige, unbewohnte, von schroffen Gebirgen umgebene Landschaft. Vergebens suchte sie nach jenen Gräsern und Bäumen, die sie im
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