Sternschnupperkurs
sagte.
Die Pineapple Bar am Hafen gehörte nicht zu Suzys Stammkneipen. Das Gebäude hatte mehrere Ebenen und bot einen Blick auf die Baltic Wharf. Die Bar im Erdgeschoss quoll über vor Teenagern und vibrierte zu den Klängen von House-Musik. Ein Albtraum, dachte Suzy und fühlte sich unglaublich alt.
»Arbeitet Lucille hinter der Theke? Ich begreife nicht, warum sie nicht will, dass ich das weiß? Es ist doch absolut okay, in einer Bar zu arbeiten.«
»Hör auf zu reden«, rief Harry über seine Schulter. »Und bleib immer dicht bei mir.«
Im ersten Stock war es noch voller. Die verrauchte Luft war gefüllt von den Anfeuerungsrufen von über fünfzig hypererregten jungen Frauen, die sich einen Mädelsabend machten und einen männlichen Stripper angeheuert hatten. Ein Tanga mit Pailletten segelte unter begeistertem Brüllen durch die Luft.
»Nicht hinsehen!«, befahl Harry.
»Ich hoffe nur, dass Lucille in ihrer Freizeit nicht als männlicher Stripper arbeitet. Wie hoch geht es denn noch?«, klagte Suzy, als sie sich der nächsten Treppe näherten.
»Tut mir leid. Das war früher ein Lagerhaus.«
»Ist Lucille wirklich da oben oder beliebst du nur grausam mit mir zu scherzen?«
»Oh, sie ist da oben. Ich kann sie schon hören.«
Suzy hörte nichts anderes als das ohrenbetäubende Gekreische der jungen Frauen unter ihnen, die dem Stripper »Ausziehen, ausziehen, ausziehen!« zuriefen. Das hatte er doch aber schon getan, oder? Wie viele Paillettentangas konnte ein Mann tragen?
Es ging immer weiter nach oben.
»Da ist sie«, sagte Harry zu guter Letzt und zeigte auf eine einsame Figur am anderen Ende des Raumes. Und er hatte recht, da war Lucille. Sie kauerte mit einer Gitarre auf einem Hocker und spielte und sang einen Song im Stil von Amy Winehouse.
Sie sorgte nicht gerade für Aufregung. Niemand im dritten Stock der Pineapple Bar achtete auch nur im Geringsten auf sie. Als Lucille den Song zu Ende gesungen hatte, waren Suzy und Harry die Einzigen, die klatschten.
»Ich habe jetzt Pause«, sagte Lucille, stellte die Gitarre zur Seite und sah Suzy abwehrend an. »Vermutlich war das Harrys Idee.«
Sie trug zerrissene, schwarze Jeans und einen kurzen, blutroten Baumwollbolero. Ihre geflochtenen Haare mit den Perlen waren – angesichts des Namens der Bar sehr passend – zu einer Ananas hochgebunden. Harry kehrte mit drei Drinks von der Theke zurück.
»Ja«, sagte Harry zu Lucille, »es war tatsächlich meine Idee, sie herzubringen.«
»Ich weiß nicht, warum du so ein Geheimnis daraus machst«, rief Suzy. Obwohl sie es natürlich ganz genau wusste.
Na ja, es lag auf der Hand.
»Hör mal, es muss schlimm genug sein, wie ich so einfach hochgepoppt kam«, sagte Lucille ganz offen. »Von wegen ›Hallo, Überraschung, ich bin deine Schwester!‹« Sie sah Suzy mit festem Blick an. »Das würde auch nicht dadurch besser, dass ich gleich als Nächstes meine Gitarre hervorziehe und sage ›Ach übrigens, ich bin Sängerin – he, warst du nicht mit Jaz Dreyfuss verheiratet? Vielleicht könntest du mich deinem Ex ja mal vorstellen!‹«
»Das würdest du doch wohl nicht tun?«, fragte Suzy entsetzt.
O Gott, nein, oder?
Lucille wirkte leicht entnervt. »Nein, würde ich nicht.
Ich
weiß das, aber du kennst mich noch nicht. Du könntest annehmen, dass ich es darauf abgesehen habe … Du weißt ja, wie es ist, manche Leute würden für eine solche Chance einfach alles tun. Tja«, fuhr sie fort, »ich kann dir nur versichern, dass ich nicht zu diesen Leuten gehöre. Mir wäre es sogar lieber, du würdest Jaz nichts von mir erzählen. Das wäre sehr viel weniger peinlich.«
Suzy zuckte mit den Schultern. »Okay, wenn du es so haben willst.«
Das war auf jeden Fall eine Abwechslung. Ihrer Erfahrung nach war es das erklärte Ziel der meisten jungen Musiker, einmal im Leben Jaz zu treffen. Zu Suzys großem Erstaunen hielten sie ihn nicht für einen gescheiterten, alten Alkoholiker, der mal wer gewesen war. In ihren Augen war Jaz immer noch das Genie, das eines der meistverkauften Alben der Rockgeschichte geschrieben hatte. Eigentlich war es anrührend. Sogar heute noch verging kaum ein Tag, an dem nicht mindestens zwei Demo- CD s von eifrigen Möchtegerns mit der Post kamen oder hoffnungsvoll unter der Tür hindurchgeschoben wurden.
Reine Zeitverschwendung, da Jaz sich niemals Demo- CD s anhörte. Sein Leben war mittlerweile eine musikfreie Zone.
»Sie vermarktet sich einfach nicht«, verkündete Harry.
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