Sternstunde der Liebe (German Edition)
wartete auf ihn.
»Hallo, Tante Rumer.«
»Hallo, Michael.«
»Musst du weg?«
»Ja.« Sie balancierte die niedrige Holzkiste vorsichtig in ihren Händen, stellte sie auf der Ladefläche ihres Pick-up ab, blickte ihn an und schien einen Entschluss zu fassen. »Ich wollte die Petunien zu meinem Freund Edward auf die Farm bringen und einpflanzen. Hast du Lust, mich zu begleiten?«
»Klar.« Er warf einen raschen Blick auf Winnies Cottage. Sein Vater saß auf der Veranda, starrte aufs Meer hinaus. Ihm war alles lieber, als einen weiteren Abend mit dem krampfhaften Versuch zu vergeuden, miteinander ins Gespräch zu kommen. Michael stieg in den Wagen seiner Tante.
Sie fuhren an der Küste entlang, vorbei an weitläufigen grünen Marschen und einem Fischmarkt. Obwohl das Meer meilenweit entfernt war, lagerte sich das Salz überall ab. Auf den alten verwitterten Dachschindeln im gleichen Maß wie auf den noch jungfräulich weißen Bretterverschalungen; auf den mit Grünspan überzogenen Kupferschutzblechen an den Dachprofilen; auf den Wetterfahnen in Schiffsform; auf den Meereslandschaften in den Auslagen der Kunstgalerie; auf den weißen Kirchen. Etliche Gärten wiesen ein üppiges Wachstum auf, mit einer Blütenpracht in Weiß, Grün und Blau, als hätten sich die Farben des Meeres über die Felsen auf das Festland ergossen.
»Dort drüben haben Quinns Eltern gearbeitet«, sagte seine Tante und deutete auf ein gelbes viktorianisches Haus an der Hauptverkehrsstraße.
Ein seltsam vertrautes Gefühl regte sich in Michael. Er warf seiner Tante einen verstohlenen Blick zu, erinnerte sich an Zeiten, als er sich in ihrer Obhut befunden hatte. Es waren gute Erinnerungen, wenngleich verschwommen. Sie hatte ihn unter ihre Fittiche genommen, als seine Eltern beschäftigt gewesen waren … er war in Begleitung eines Kindermädchens von Kalifornien nach Connecticut geflogen … und sie hatte ihn mit einem Pick-up abgeholt, der genauso aussah wie dieser.
Seine Tante fuhr zur Stadt hinaus, am Fluss entlang, aufs Land. Steinwälle zogen sich kreuz und quer durch die grünen Hügel, und Rotwild graste in den Lorbeerbüschen. An einer Weggabelung bogen sie nach links ab. Seine Tante fuhr langsamer, dann passierten sie eine Toreinfahrt mit einem Schild, auf dem Peacedale Farm stand. Bevor sie ausstiegen, reichte ihm seine Tante einen Apfel. Sie lächelte, als sie seinen Blick auffing. »Den brauchst du.«
Michael nickte, hob die Pflanzen für sie aus dem Truck. Sie setzte die Kiste an einer langen Blumenrabatte neben dem weißen Haus ab. Sie überquerten die breite Auffahrt, wobei die Stiefel seiner Tante auf dem Kies knirschten. Michael war immer noch barfuß, wie in Quinns Boot. Die Steine bohrten sich in seine Fußsohlen, und er wollte seiner Tante gerade vorschlagen, dass er im Wagen auf sie warten würde, als er ein Wiehern hörte.
Auf der anderen Seite der Weide stand ein dunkelbraunes Pferd. Die Ohren aufgestellt, verharrte es reglos auf der Stelle, nahm mit bebenden Nüstern die Witterung auf. Ein goldener Lichtschein lag über der steinigen Fläche, auf der Schwalben und Libellen umherschwirrten. Das Pferd warf den Kopf in den Nacken, und Michaels Kehle war plötzlich wie zugeschnürt.
»Er erinnert sich an dich«, sagte Rumer, ihre Hand auf Michaels Schulter.
Michael ging über den Kies zu dem weißen Gatter. Er brach den Apfel entzwei und hielt dem Pferd die eine Hälfte auf der flachen Hand entgegen. Es überquerte im leichten Galopp die Weide, blieb Auge in Auge mit Michael stehen.
»Blue«, flüsterte Michael, als die samtigen Nüstern des Pferdes seinen Unterarm streiften. Das Pferd verspeiste die Apfelhälfte, während Michael ihm den Hals tätschelte und in seine dunklen, unergründlichen Augen blickte.
»Ihr wart früher ein Herz und eine Seele«, sagte Rumer.
»Er lebt noch …«
»Natürlich. Er mag alt sein, aber er ist nicht zu bremsen. Stimmt’s, Blue?«
Michael klammerte sich an das Pferd. Seltsame Erinnerungen gingen ihm durch den Kopf: Wie er unter Tränen um die Erlaubnis gebettelt hatte, ihn zu besuchen, wie sich ihm eine Tür ein für alle Mal verschloss. Er hörte die Stimme seiner Mutter, die ihm sagte, dass er verletzt werden könnte; Reiten sei nicht gut für ihn. Nun blickte er seine Tante an.
»Warum durfte ich ihn so lange nicht besuchen?«
»Deine Mutter wollte es nicht.«
»Warum?«
»Weil …« Die Stimme seiner Tante klang gepresst. Sie hielt inne, als wüsste sie nicht, wie
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