Sternstunde der Liebe (German Edition)
sie fortfahren sollte. Michael sah, dass sie mit sich rang, eine Entscheidung zu treffen versuchte. Er war noch jung – wahrscheinlich meinte sie, dass sie ihm gewisse Dinge nicht erzählen sollte oder durfte.
»Bitte sag es mir.«
»Ich kann nicht, Michael«, erwiderte sie betrübt. »Sie ist meine Schwester, deine Mutter …«
Michael wartete, aber sie wich seinem Blick aus. Sein Atem ging schneller. Irgendetwas war zwischen seiner Tante und seinem Vater geschehen, vor langer Zeit. Niemand sprach darüber, aber er wusste, dass es mit dem Grund zusammenhing, warum er Tante Rumer nicht mehr besuchen oder auch nur von ihr reden durfte, als ob schon die Erwähnung ihres Namens so nachhaltige Folgen haben könnte, dass sie niemand mehr in den Griff bekommen würde.
In ebendiesem Augenblick ging die Haustür auf. Ein Mann trat ins Freie – Edward, der Freund, mit dem seine Tante zur Hochzeit erschienen war. Schlank und aristokratisch wie ein Herzog oder dergleichen, mit weißblonden Haaren, die sich über dem Hemdkragen ringelten. Seine hohen braunen Reitstiefel glänzten wie blank poliertes Holz. Ein Farmarbeiter kam aus dem Stall auf ihn zu. Edward winkte, als er Rumer und Michael sah.
»Hallo, ihr zwei!«, rief er. »Rumer, ich muss mit Albert auf den Heuboden, einen Wasserschaden anschauen – komm rüber, wenn du fertig bist, ja?«
Rumer antwortete nicht. Sie stand reglos da, ihre Schultern bebten. Edward zögerte, wartete auf Antwort.
»Okay«, rief Michael anstelle seiner Tante. Edward winkte abermals, dann ging er zur Scheune hinüber.
»Tante Rumer?«
»Vielen Dank.« Ihr Gesicht war nach wie vor abgewandt, als hätte sie geweint.
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Ja, alles bestens.« Sie mied immer noch seinen Blick.
Michael kletterte auf das Gatter, schwang ein Bein über den Rücken des alten Pferdes. Er packte die Mähne, spornte Blue mit einem leichten Schenkeldruck an und galoppierte über die Weide. Die salzhaltige Luft brannte in seinen Augen, vom Meer wehte eine frische Brise herüber.
Quinn würde es hier gefallen, dachte er. Er malte sich aus, wie er an ihr vorbeipreschte, sie in fliegendem Galopp auf den Pferderücken hob. Er dachte an all die Jahre, in denen der Name seiner Tante nicht erwähnt werden durfte – was hatte er gedacht, wo sie war?
Hatte er geglaubt, sie sei tot? Oder dass seine Eltern sie hassten?
Er hatte sie geliebt. Daran erinnerte er sich nun.
Als er sich umdrehte, um seiner Tante zuzuwinken und sich bei ihr zu bedanken, weil sie ihn zu Blue zurückgebracht hatte, sah er sie am Gatter stehen; ihr Kopf ruhte auf den verschränkten Armen und sie weinte, als sei ihr Herz gebrochen.
11
A m nächsten Tag goss es in Strömen. Rumer, die in ihrer Praxis stand, hörte, wie der Regen auf das Dach und die Blätter der Bäume prasselte. Ein Wagen hatte die Kontrolle auf der nassen Fahrbahn verloren und einen Collie angefahren. Rumer und Mathilda hatten den ganzen Vormittag operiert, um sein Leben zu retten. Dadurch waren sie mit allen nachfolgenden Terminen in Verzug geraten, doch nun hatten sie den Rückstand beinahe aufgeholt.
»Mistwetter«, schimpfte Mathilda, als der Regen immer stärker wurde. »Es geht doch nichts über den Geruch nasser Hunde, um die Sehnsucht nach einem sonnigen Tag in mir zu wecken.«
»Ich hoffe, mein Vater ist jetzt draußen«, sagte Rumer. »Und bekommt einen Vorgeschmack davon, wie es ist, durch die Georges Bank zu segeln.«
»Ich hatte ihn immer für ungeheuer vernünftig gehalten.« Mathilda schmunzelte. »Vielleicht nur deshalb, weil er eine so ungeheuer vernünftige Tochter hat.«
»Danke, Mattie. Ich werde es ihm ausrichten.«
Sie behandelten einen Spaniel mit Koliken, einen Basset mit einer Atemwegsinfektion und zwei Katzen mit Ohrmilben. Ständig läutete das Telefon; der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Mathilda hörte alle Anrufe ab und notierte sämtliche Nachrichten mit der Bitte um Rückruf, die Rumer nach der Sprechstunde erledigen konnte. Als sie den letzten Patienten für heute ins Behandlungszimmer brachte, räusperte sie sich. »Dr. Larkin«, sagte sie. »Sie haben Besuch.«
Rumer blickte von ihren Notizen auf; Edward stand auf der Türschwelle. Vor Überraschung fiel ihr die Kinnlade herunter. Mathilda zögerte, als wüsste sie nicht, was sie tun sollte, dann verließ sie schnell den Raum, um die beiden alleine zu lassen.
»Ich wollte die Medikamente für Orazio und Artemesia abholen, das Mittel gegen die
Weitere Kostenlose Bücher