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Sterntagebücher

Sterntagebücher

Titel: Sterntagebücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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die Tür hinter sich schließend, hinaus; und in der Leere ertönt nur das schwache, dem Laut einer sterbenden Fliege gleichende Summen des Stroms.

    II

    Vor ungefähr sechs Jahren, nach meiner Rückkehr von einer Reise, als ich der Ruhe und der Freude an der naiven Ordnung des häuslichen Lebens schon wieder überdrüssig war, jedoch nicht in dem Maße, daß ich eine neue Exkursion plante, kam eines späten Abends, als ich niemanden mehr erwartete, ein Mann zu mir und unterbrach mich beim Schreiben meiner Erinnerungen.
      Er war im besten Alter, rothaarig, und schielte entsetzlich, so sehr, daß es schwerfiel, ihm ins Gesicht zu blicken, obendrein hatte er ein grünes Auge und ein braunes. Dadurch wurde noch der besondere Ausdruck dieses Gesichts betont, als hätten darin zwei Menschen Platz, ängstlich und nervös der eine, arrogant und ein scharfsinniger Zyniker der andere, dominierende; daraus ergab sich ein verblüffendes Durcheinander, denn er betrachtete mich einmal mit dem unbeweglichen, gleichsam verwunderten braunen Auge, ein andermal mit dem grünen, das halb zugekniffen war und dadurch spöttisch wirkte.
      »Herr Tichy«, sagte er, kaum daß er mein Arbeitszimmer betreten hatte, »sicherlich werden Sie von verschiedenen Bauernfängern, Betrügern, Verrückten heimgesucht, die Sie anpumpen wollen oder danach trachten, Ihnen ihre Märchen aufzuschwatzen, stimmt’s?«
      »In der Tat«, erwiderte ich, »das kommt vor… Was wünschen Sie?«
      »Unter der Vielzahl solcher Personen«, fuhr der Ankömmling fort, ohne seinen Namen oder den Grund seines Besuchs zu nennen, »muß sich – vielleicht einer unter tausend – von Zeit zu Zeit ein wirkliches Genie befinden. Das erfordern schon die unumstößlichen Gesetze der Statistik. Dieser Mensch, Herr Tichy, bin ich. Mein Name ist Decantor. Ich bin Professor der vergleichenden Ontogenetik, ordentlicher Professor. Einen Lehrstuhl habe ich augenblicklich nicht inne, weil ich dafür keine Zeit habe. Übrigens ist Unterrichten eine absolut unfruchtbare Beschäftigung. Niemand kann jemanden etwas lehren. Aber nicht darum geht es. Ich befasse mich mit einer Frage, der ich schon achtundvierzig Jahre meines Lebens widme; jetzt habe ich sie zu Ende geführt.«
      »Auch ich habe wenig Zeit«, entgegnete ich. Der Mann gefiel mir nicht. Sein Verhalten war nicht fanatisch, sondern arrogant, und wenn ich schon wählen muß, ziehe ich die Fanatiker vor. Außerdem war es offensichtlich, daß er Unterstützung verlangen würde, ich aber bin geizig und habe den Mut, mich dazu zu bekennen. Das bedeutet nicht, daß ich eine bestimmte Sache mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln nicht unterstützen würde, aber ich tue das ungern, mit großem Widerstreben und gewissermaßen gegen meinen Willen; ich weiß einfach, daß man so handeln muß.
      Deshalb fügte ich nach einer Weile hinzu: »Vielleicht erklären Sie mir, worum es sich handelt? Ich kann Ihnen natürlich nichts versprechen. Mir ist da etwas in Ihren Worten aufgefallen. Sie haben gesagt, daß Sie achtundvierzig Jahre Ihrem Problem gewidmet haben. Wie alt sind Sie überhaupt, wenn ich fragen darf?«
      »Achtundfünfzig«, antwortete er wesentlich kühler.
      Er stand noch immer mitten im Zimmer, als wartete er, daß ich ihm einen Stuhl anbot. Ich hätte es getan, denn ich gehöre zu den höflichen Geizhälsen, aber ich ärgerte mich, daß er so ostentativ darauf wartete. Außerdem habe ich bereits gesagt, daß er mir über die Maßen unsympathisch war.
      »Diesem Problem«, begann er von neuem, »habe ich mich als zehnjähriger Junge zugewandt. Denn ich bin nicht nur ein genialer Mensch, Herr Tichy, ich war auch ein geniales Kind.«
      Solche Großtuer sind mir nichts Neues, aber soviel Genialität ging mir entschieden zu weit. Ich biß mir auf die Lippe.
      »Bitte fahren Sie fort«, sagte ich. Hätte der eisige Ton die Temperatur senken können, dann hingen jetzt Stalaktiten von der Decke.

  »Ich habe die Seele erfunden«, erklärte Decantor und sah mich mit seinem dunklen Auge an; das spöttische fixierte unterdessen irgendwelche grotesken, nur ihm zugänglichen Gesichte unter der Decke. Er sagte das so, als wollte er mir mitteilen, er habe einen neuen Radiergummi erfunden.
      »Sieh mal an, die Seele«, sagte ich beinahe herzlich, denn das Format seiner Unverschämtheit belustigte mich allmählich. »Die Seele also? Die haben Sie sich einfach ausgedacht, was? Interessant – ich

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