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Sterntagebücher

Sterntagebücher

Titel: Sterntagebücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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brach herein. Ich ging hinaus vor die Stadt, hockte mich ins Gras und begann nachzudenken. Mir war schwer ums Herz. Hätte man mich enthauptet, dann wäre mir wenigstens meine Ehre geblieben, so aber, nachdem ich auf die Seite dieses elektrischen Ungeheuers übergegangen war, hatte ich die Sache verraten, die ich vertrat, hatte ich meine Chance vertan. Was sollte ich tun? Zur Rakete laufen? Das wäre schändliche Flucht gewesen. Trotzdem ging ich los. Das Schicksal eines Spitzels im Dienst einer Maschine, die über Kolonnen eiserner Kästen gebietet, wäre eine noch schlimmere Schande. Aber wer beschreibt mein Entsetzen, als ich an der Stelle, wo ich die Rakete verlassen hatte, nur zertrümmerte, von irgendwelchen Maschinen auseinandergezerrte Reste erblickte.
      Es war bereits dunkel, als ich in die Stadt zurückkehrte. Ich setzte mich auf einen Stein und schluchzte zum erstenmal in meinem Leben bitterlich vor Kummer über meine verlorene Heimat. Die Tränen rannen über das eiserne Innere dieses hohlen Panzers, der von nun an bis zu meinem Tod mein Gefängnis sein sollte, troffen durch die Knieritzen nach außen, drohten mit Rost und mit Versteifung der Gelenke. Aber nun war mir alles egal.
      Plötzlich erblickte ich vor dem Hintergrund des im Westen verglimmenden Lichts einen Zug Hellebardiere, der langsam zu den Vorstadtwiesen hinauszog. Sie verhielten sich eigenartig. Die abendliche Dämmerung wurde dichter, und in dieser Dunkelheit verschwanden sie einer nach dem andern einzeln aus den Reihen, möglichst leise die Beine bewegend, krochen ins Gebüsch und tauchten darin unter. Das erschien mir so merkwürdig, daß ich trotz meiner Niedergeschlagenheit leise aufstand und dem nächsten von ihnen folgte.
      Erwähnen möchte ich, daß dies eine Jahreszeit war, in der an den Vorstadtbüschen wilde Beeren wuchsen, im Geschmack den Blaubeeren ähnelnd, süß und überaus schmackhaft. Ich selbst hatte sie gegessen, sooft ich aus der eisernen Stadt entwischen konnte. Wer begreift meine Verblüffung, als ich sah, wie der von mir beobachtete Hellebardier sich mit einem kleinen Schlüssel, der aufs Haar dem glich, den mir der Bevollmächtigte der II. Abteilung ausgehändigt hatte, das Visier an der linken Seite öffnete, mit beiden Händen die Beeren pflückte und sie wie ein Wilder in den offenen Rachen stopfte. Bis zu mir drang das hastige, mampfende Schmatzen.
      »Pssst«, zischte ich durchdringend, »du, hör mal.«
      Mit einem Satz war er im Dickicht, aber er flüchtete nicht weiter, ich hätte es sonst gehört. Er mußte sich irgendwo hingekauert haben.
      »Hallo«, rief ich mit gedämpfter Stimme, »hab keine Angst. Ich bin ein Mensch. Ein Mensch. Ich bin ebenfalls verkleidet.« Ein vor Angst und Argwohn flammendes Auge musterte mich durch das Laub.
      »Wie soll ich wissen, ob hinters Licht zu führen nicht deine Absicht ist?« ertönte eine rauhe Stimme.
      »Aber ich sage dir doch. Hab keine Angst. Ich komme von der Erde. Man hat mich hierhergeschickt.«
      Ich mußte ihn noch eine Weile überzeugen, bevor er sich so weit beruhigte, daß er aus dem Gebüsch kroch. Er berührte meinen Panzer im Dunkeln.
      »Du bist ein Mensch? Fürwahr?«
      »Warum redest du nicht wie ein Mensch?« fragte ich.
      »Weil es mir entfallen. Es geht schon ins fünfte Jahr, wo mich ein grausiges Fatum hierhergebracht… Gelitten hab ich, daß sich’s nit in Worte fassen läßt… Oh, welch glückliche Fortuna, so mich noch vor meinem Tode einen Leimer erblicken läßt…«, stammelte er.
      »Besinn dich und hör auf, so zu sprechen! Hör mal – bist du etwa von der Geheimabteilung?«
      »Wie denn nicht. Fürwahr, ich bin von der Abwehr. Malingraut hat mich hierhergesandt, in dieses grausame Leid.«
      »Warum bist du nicht geflohen?«
      »Wie sollte ich fliehen, wenn man mir die Rakete auseinandergenommen und gänzlich zerstückelt hat? Bruder – es frommt mir nicht, hier zu sitzen. Es ist Zeit, in die Kaserne zu eilen… Halt, sehen wir uns noch? Kömmst du morgen vor die Kaserne… Kömmst du?«
      Ich verabredete mich also mit ihm, obwohl ich nicht einmal wußte, wie er aussah, und wir nahmen voneinander Abschied. Er schärfte mir ein, noch eine Weile zurückzubleiben, und verschwand in der Dunkelheit der Nacht. Mit neuem Mut kehrte ich in die Stadt zurück, denn ich sah die Chance, eine Widerstandsbewegung zu organisieren. Um Kraft zu schöpfen, ging ich in die erste Schenke, an der ich

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