Sterntagebücher
Individuum…«
»In einem sehr geringen Maße«, erwiderte er mit gleichbleibendem Lächeln. »Du hast sicherlich bemerkt, daß unsere Gesichter sich nicht voneinander unterscheiden. Ebenso haben wir die höchste gesellschaftliche Austauschbarkeit erreicht.«
»Das verstehe ich nicht. Was soll das bedeuten?«
»Ich erkläre es dir gleich. Es gibt in jedem Augenblick in der Gesellschaft eine bestimmte Anzahl von Funktionen oder – wie das bei uns heißt – Planstellen. So gibt es Berufsplanstellen für Herrscher, Gärtner, Techniker, Ärzte, aber es gibt auch Familienplanstellen – für Väter, Brüder, Schwestern und so weiter. Auf jedem dieser Posten ist ein Panter nur vierundzwanzig Stunden tätig. Um Mitternacht vollzieht sich in unserem ganzen Staat eine bestimmte Bewegung, als machten alle – bildlich gesprochen – den gleichen Schritt. Auf diese Weise wird eine Person, die gestern Gärtner war, heute Ingenieur, der gestrige Bauarbeiter wird Richter, der Herrscher Lehrer und so weiter. Ähnlich verhält es sich mit den Familien. Jede besteht aus Verwandten, also dem Vater, der Mutter, den Kindern; nur die Funktionen bleiben unverändert, die Personen, die sie ausüben, wechseln jeden Tag. Unveränderlich bleibt also das Gemeinwesen, begreifst du nun? Es gibt stets die gleiche Anzahl von Eltern und Kindern, Ärzten und Krankenschwestern, und so ist es auf allen Gebieten des Lebens. Der mächtige Organismus unseres Staates besteht seit Jahrhunderten unverändert fort und ist unveränderlich, fester als ein Fels. Seine Festigkeit verdankt er dem Umstand, daß wir ein für allemal mit der ephemerischen Natur der Einzelexistenz Schluß gemacht haben. Deshalb sagte ich auch, daß wir in vollendeter Weise auswechselbar sind. Du wirst dich bald davon überzeugen können, denn nach Mitternacht, wenn du nach mir verlangen wirst, komme ich zu dir in einer neuen Gestalt…«
»Aber wozu das alles?« fragte ich. »Wie kann jeder von euch alle Berufe ausüben? Und wie kannst du nicht nur Gärtner, Richter oder Verteidiger, sondern beliebig auch Vater und Mutter sein?«
»Viele Berufe«, erwiderte mein lächelnder Gesprächspartner, »führe ich nicht gut aus. Vergiß jedoch nicht, daß jeder Beruf nur einen Tag ausgeübt wird. Überdies führt in jeder Gesellschaft alten Typus eine gewaltige Anzahl von Personen ihre beruflichen Funktionen mangelhaft aus, trotzdem hört deshalb die gesellschaftliche Maschinerie nicht auf, weiter zu wirken. Jemand, der ein schlechter Gärtner ist, wird bei euch einen Garten herunterwirtschaften, ein schlechter Herrscher wird den ganzen Staat in den Ruin führen, denn beide haben dazu Zeit, die ihnen bei uns nicht gegeben ist. Überdies macht sich in einer gewöhnlichen Gesellschaft außer fachlichem Mangel auch ein negativer, sogar verderblicher Einfluß privater Bestrebungen von Individuen bemerkbar. Neid, Stolz, Egoismus, Eitelkeit, Machtgier üben eine zersetzende Wirkung auf das Leben der Allgemeinheit aus. Diesen schlechten Einfluß gibt es bei uns nicht. Vor allem gibt es bei uns nicht das Streben nach Karriere, es läßt sich auch niemand von persönlichen Interessen leiten, denn es gibt bei uns kein persönliches Interesse. Ich kann heute in meiner Planstelle keinen Schritt tun in der Hoffnung, daß sich dieser Schritt morgen auszahlen wird, denn morgen werde ich schon ein anderer sein, aber ich weiß heute noch nicht, wer ich morgen sein werde. Der Wechsel der Planstellen erfolgt um Mitternacht durch eine allgemeine Auslosung, auf die kein Lebender Einfluß nehmen kann. Beginnst du nun die tiefe Weisheit unserer Gesellschaftsordnung zu begreifen?«
»Doch wie ist das mit den Gefühlen?« fragte ich. »Kann man jeden Tag einen anderen Menschen lieben? Und wie verhält es sich mit der Vaterschaft und der Mutterschaft?«
»Eine gewisse Störung unseres Systems bedeutete früher der Umstand, daß eine Person auf der Planstelle des Vaters ein Kind gebar, denn es kann vorkommen, daß eine Frau gerade am Tage ihrer Niederkunft die Planstelle eines Vaters übernimmt. Jedoch ist diese Schwierigkeit verschwunden, seit gesetzlich bestimmt worden ist, daß ein Vater Kinder gebären kann. Was die Gefühle anlangt, so haben wir zwei, die scheinbar einander ausschließen, befriedigt: das Verlangen nach Dauer und das Verlangen nach Veränderung. Anhänglichkeit, Achtung, Liebe wurden einst durch ständige Unrast, durch die Befürchtung, die geliebte Person zu
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