Sterntaler: Thriller (German Edition)
wirklich zu traurig, dass Sie nicht sprechen. Wo Sie doch so ein spannendes Leben hatten, von dem Sie uns erzählen könnten!«
Das bezweifelte Thea. Die Teile ihres Lebens, die interessant gewesen sein mochten, lagen tief im Schatten der Mordanklage. Auch dass ihr Sohn seit dreißig Jahren verschwunden war, hatte zu wilden Gerüchten geführt. Angeblich sollte sie auch ihn ermordet und irgendwo vergraben haben.
Einer der Polizisten, der an der Suche nach ihrem Sohn beteiligt gewesen war, besuchte sie noch immer hin und wieder. Bis zum heutigen Tag wollte er sie dazu bringen zu gestehen. Manchmal saß er einfach nur schweigend da und sah sie an. Dann wieder setzte er sich neben sie und redete mit seiner ruhigen Stimme auf sie ein, bat sie, sich ihm anzuvertrauen. Denn sicher wolle sie doch ihren Frieden machen, ehe sie starb? Es gäbe immer noch eine Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen.
Thea hatte nie um seine Besuche gebeten. Wenn er seinen Job besser gemacht hätte, hätte die Geschichte einen anderen Verlauf genommen. Dann wäre Thea frei gewesen. Lebendig. Sie hätte weiter Mutter sein können. Und sie hätte ihre Erfolge als Schriftstellerin gefeiert. Doch es hatte keinen Sinn, das alles immer wieder aufzukochen.
Andererseits hatte sie keine Alternative und keine Wahl. Der Besuch dieser Pflegerin, Malena, hatte ihr einen größeren Schrecken eingejagt, als sie es sich eingestehen wollte. Wie konnte das Mädchen nur in jenes Drama hineingezogen werden, das seit Jahrzehnten um Thea tobte?
Sie hatte die Angst in Malenas Augen gesehen, die Anspannung in ihrer Stimme gehört. Sie hatte Fragen gestellt über Rebecca Trolle, die man tot in Midsommarkransen gefunden hatte. Woher hatte Malena gewusst, dass Rebecca sie im Heim besucht hatte? Und jetzt, da Rebecca tot aufgefunden worden war, hatte Malena sie über diesen Besuch ausfragen wollen.
Thea drückte fest die Augen zu und wünschte sich, alle würden sie in Ruhe lassen. Reichte denn ihr Schweigen nicht als Signal, dass sie nicht mehr über die Vergangenheit sprechen wollte? Sie erinnerte sich noch daran, wie sie den Entschluss gefasst hatte. Mitten in einem Verhör, das kurz nach ihrer Verurteilung stattgefunden hatte.
»Ihr Sohn«, hatte der Polizist gesagt, »wir glauben, dass Sie ihn ermordet haben. Genau wie Sie seinen Vater ermordet haben. Wo ist der Junge?«
Ihr Herz war zersprungen. Sie sollte ihren eigenen Sohn ermordet haben? Hatten die denn vollkommen den Verstand verloren?
Manchmal hatte sie sich gezwungen, die Sache aus der Perspektive der Polizei zu betrachten. Sie war eine verurteilte Mörderin, die ihren Mann in der eigenen Garage erstochen haben sollte. Zudem war sie hartnäckigen Gerüchten zufolge die Autorin der Bücher »Merkurius« und »Asteroid«, zweier Werke, die zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung einen Aufschrei in den Medien und in der Öffentlichkeit provoziert hatten. Kaum eine andere Publikation der damaligen Zeit hatte derartige Tumulte ausgelöst.
Vor diesem Hintergrund war es nicht erstaunlich, dass Thea des Mordes an ihrem Sohn verdächtigt wurde. Sie galt als Sadistin und Psychopathin.
Die Tür zu ihrem Zimmer wurde erneut aufgerissen, und die Pflegehelferin kam zurück. »Sie haben wieder Blumen bekommen. Wie jeden Samstag.« Mit einer raschen Bewegung ersetzte sie eine Vase mit den alten durch eine neue und stellte sie neben Thea ans Bett. Dann drehte sie die Vase so, dass Thea die Karte lesen konnte.
Sie lächelte über den kargen Gruß, der immer derselbe war. »Danke.«
Nichts zu danken, dachte Thea. Ich bin dir viel mehr schuldig, als du dir jemals vorstellen kannst.
Es hatte eine Zeit vor der großen Katastrophe gegeben. Eine gute Zeit. Ihre ersten Kinderbücher waren Ende der Fünfzigerjahre veröffentlicht worden. Sie war noch sehr jung gewesen, und damals hatte ein Schriftsteller mit großen Auflagen immer noch ein privates, zurückgezogenes Leben führen können. Thea war nur selten öffentlich aufgetreten. Sie lernte ihre jungen Leser zwar gern kennen, hatte sich selbst aber nie als kinderlieb betrachtet.
Die Öffentlichkeit jedoch verstand den Grund für ihre seltenen Treffen mit den Lesern falsch. In den Zeitungen beschrieb man sie als schüchtern, was sie umso populärer machte. Und als die Bücher schließlich ins Ausland verkauft wurden, konnten die Kritiker sich kaum mehr halten.
Die Bücher wurden in Form wie auch Inhalt als einzigartig bezeichnet. Dysia, das Engelsmädchen, war eine
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