Sterntaucher
vergraben, denkt doch mal nach. Er ist von selber gekommen. Ich hab ihn vor dem Leichenhaus gesehen, da kam er raus im weißen Hemd, und dann war er in mir drin.«
»Wie das?« Kissel klang amüsiert.
Dorian versuchte ein paar kleine Schritte, bis er genau vor der Henkel stand. »Wen hast du gesehen? Bei der Obduktion, das war nicht Robin, stimmt’s? Da konnte er nicht liegen, weil – da war er schon drin.« Langsam ließ er sich zu ihren Füßen nieder wie ein frierendes Hündchen, das sie tätscheln durfte. Ihre Beine waren vor seinen Augen, schöne Beine, nein, das hatte er sich nicht eingebildet, lange, glatte, strumpflose Beine. Zart lackierte Fußnägel. Der Schichtleiter im Bahnhofsrevier hatte einmal gezetert, daß es einen abscheulichen Eindruck auf Angehörige von Mordopfern machen mußte, tanzte die Ermittlerin wie eine Schaufensterpuppe an, aber das stimmte nicht. Er selber war doch Angehöriger eines Opfers, und ihm gefiel, was er sah. Sie trug ein Kostüm, dessen kurzer, enger Rock einen anmachen könnte, wäre man in besserer Verfassung und hätte ein richtiges Leben zu leben, ohne einen Geist im Bauch und ohne ein Video im Hirn, das anfing zu spielen, obwohl man es nicht wollte. Als er den Kopf hob, sah er in ihren violett schimmernden Augen etwas wie Furcht, aber sie mußte doch keine Angst vor ihm haben. Sie würde ihn kaum anders anstarren, hätte er gerade gesagt, paß auf, dir ist eine Spinne die Beine hochgekrochen, hast du es nicht gemerkt? Schau mal, jetzt ist sie unterm Rock und krabbelt weiter in dich rein. Ich bin doch kein Monster, Ina, wollte er sagen, ich doch nicht, bloß Robin, ja, der schon.
»Was meinst du?« fragte sie endlich, was sich anhörte, als wäre sie dabei, eine fremde Sprache zu lernen. »Ich versteh dich nicht.«
Etwas Beschwörendes lag in ihrer Stimme, das ihn im selben Moment trösten konnte und friedlicher stimmte. Sie verstand es auch nicht, niemand konnte es verstehen. Es war, wie es war, es gab keine Antwort und keine Erklärung, es war eine dunkle Macht, die kein lebender Mensch bezwang. Ich muß dich hinnehmen, Robbi, ich kann nichts tun.
»Mein Lieber«, sagte Kissel leise, »wenn Sie uns verarschen wollen, kommen Sie nicht weit. Wenn Sie Hilfe brauchen, können wir sie vermitteln.«
»Ja«, murmelte er, obwohl er nicht richtig zuhörte, denn während Kissel sprach, war ihm etwas eingefallen – ein Putzeimer und jemand, der putzte. Das Gesicht des Mannes, das er sich kaum noch vorstellen konnte, obwohl es manchmal zu ihm kam, manchmal in der Nacht, bevor es hinter einem Schleier wieder verschwand.
Kissel beugte sich noch weiter vor. »Im Riederwald wurde eine Leiche ausgegraben, nachdem Sie die Kollegin hier freundlicherweise hingeführt haben.« Er deutete auf die Henkel, die ihn immer noch anstarrte, als hätte er nicht das Gesicht eines Menschen. »Wann haben Sie ihn verbuddelt? Der Pathologe schätzt, vor gut zwei Jahren, kann das sein?«
Dorian wartete noch immer darauf, daß Ina über sein Haar strich, einmal wenigstens, nur um ihn spüren zu lassen, daß er noch am Leben war. »Ich weiß nicht«, murmelte er. »Die ganze Zeit eben mußte ich an diese Bar denken, Lunaland, kennst du sie? Da stand diese ordinäre Barfrau.« Er drückte die Fingerspitzen auf die Stirn und schloß die Augen, weil er wieder diesen Arm auf der Rückenlehne eines Sofas liegen sah. Wie hatte das angefangen, wie kam dieser Arm dahin? Gib mir Zeit, Ina, wollte er sagen, laß mich nachdenken, gib mir deine Hand. Schick Kissel weg, der stört. Der wird mich nur wieder anbrüllen, so wie Tillmann wird er brüllen, Tillmann, ja.
Tillmann brüllte, was nichts Besonderes war, der schrie ja dauernd irgendwelche Flüche und Befehle. Doch an diesem Abend war es anders. Wie immer kam Robin sehr spät nach Hause, und wie immer ging er grußlos an Tillmann vorbei.
»BLEIB STEHEN«, schrie Tillmann, »glaube nicht, daß du mit sechzehn erwachsen bist, noch hast du zu tun, was ich dir –« Seine Stimme blieb in der Luft hängen, als Robin die Zimmertür knallen ließ, und auch sein Arm hing blöde in der Luft, als hätte ihn der Blitz getroffen und versteinert. Dorian hatte sich eine Cola aus der Küche geholt und sah nun Tillmanns Blick auf sich gerichtet.
»Das wird den Bach runtergehen mit ihm«, sagte Tillmann. »Das wird böse enden.«
Er sagte nichts, hörte nur Tillmanns Geschrei, als er schon an der Treppe war: »Was haben wir denn getan? Hattet ihr es nicht
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