Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
Aushebung des Widerstandsnests im ›Le canard‹ beigetragen haben.«
»Warum wollen Sie sich mit mir einlassen? Sie wissen doch, daß wir Feinde sind!«
»Sie übertreiben, Lamartine. Ich weiß, daß Sie zu den Menschen gehören, die für die Gerechtigkeit alles tun würden. Nun ist
mir ein Unrecht widerfahren. Was also liegt näher, als Sie um Hilfe zu bitten – zumal alle anderen sich von mir abgewandt
haben? Und bei Ihnen, Lamartine, kann ich sicher sein, daß Sie mich nicht hereinlegen werden.«
»Sie halten mich für einen Spinner, stimmt’s?«
Stieber zögerte, dann erklärte er freundlich lächelnd: »Wenn Sie mich so direkt fragen – ja! Man kann sich seine Verbündeten
nicht aussuchen.«
Lamartine erhob sich. »Ich wüßte nicht, wie ich Ihnen helfen könnte, Stieber!«
»Lassen Sie das nur meine Sorge sein. Ich werde Ihnen jeden Schritt vorschreiben.«
Lamartine wäre dumm gewesen, Stiebers Angebot abzuschlagen – bot er ihm doch das an, was er brauchte: die Entlastung vom Vorwurf
des Hochverrats.
»Was soll ich tun?«
»Suchen Sie Baronin von Thun auf!«
Stieber ging in die Hocke und griff unter die Pritsche. Er zog aus den Eisenfedern einen Fetzen hervor – ein zerrissenes,
fadenscheiniges Taschentuch, das vor langer Zeit einmal einen Spitzenbesatz gehabt haben mochte. »Zeigen Sie ihr das hier!
Sie wird wissen, was sie zu tun hat.«
»Wenn es nur darum geht – das könnte auch einer der Gendarmen erledigen, die noch auf Ihrer Seite stehen.«
Stieber trat dicht an Lamartine heran: »Ich kann mich auf niemanden mehr verlassen. Auch nicht auf die, die mir was schuldig
sind. Sie sind einer, der auf mich angewiesen ist – der einzige, der noch auf mich angewiesen ist. Deshalb sind Sie auch der
einzige, der mich nicht im Stich lassen wird. Holen Sie mir das Dossier, und wir sind beide gerettet!«
Lamartine nahm das Taschentuch und steckte es unter seinen Hosenbund.
»Keine Angst, man wird Sie nicht durchsuchen, wenn Sie dieStadtvogtei verlassen«, erklärte Stieber und reichte Lamartine die Hand. Die beiden Männer sahen sich in die Augen, keiner
der beiden konnte dem Blick des anderen lange standhalten.
Stieber öffnete die Zellentür.
Beim Hinausgehen wandte sich Lamartine noch einmal an Stieber: »Sie müssen mir schon sagen, mit wem wir es zu tun haben!«
Stiebers Lippen wurden noch dünner. »Ich will Ihnen nichts vormachen, Lamartine. Es handelt sich um den preußischen Justizminister
Simons und seinen Oberstaatsanwalt Schwarck. Die neue Zeit bringt überall neue Gesichter nach oben. Die beiden aber haben
ihre Plätze vorerst behalten können, obwohl sie als Eisenfresser verhaßt sind. Sie wollen sich nun als achtbare Juristen empfehlen
– in der Hoffnung, daß die Erneuerung sie nicht wegschwemmt. Also haben sie sich einen Sündenbock ausgesucht. Mich. Ich habe
unter ihnen gearbeitet – ich habe auch oft genug schriftliche Befehle ausführen müssen, die mit dem neuen, großzügigen Geist
nicht vereinbar sind. Allerdings habe ich eine Vielzahl dieser Befehle sorgfältig aufbewahrt, sie sind sozusagen mein Beitrag
zu dem Hinckeldeyschen Fundus. Sie sind selbst Polizist, Lamartine, und wissen, worum es geht: Inhaftierungen ohne Gerichtsbeschluß,
Verhöre unter Gewaltanwendung, auch bewußter Boykott der Direktiven von ganz oben. Die waren nach den Umwälzungen im Jahr
1848 oft so liberal, daß die beiden nicht im Traum daran dachten, sich daran zu halten. Genaugenommen handelt es sich bei
Simons und Schwarck um Verschwörer – Verschwörer in Schlüsselpositionen. Sie haben jede Anweisung sabotiert, die ihnen politisch nicht behagte oder ihren Spielraum
einschränkte. Wenn diese Art von Insubordination ans Licht kommt, wird der neue Staat sich der beiden schnellstens entledigen
– auch wenn er insgeheim mit ihren Beweggründen sympathisiert. Aber was der Kaiser momentan am allerwenigsten duldet, ist
Ungehorsam. Um dem vorzubeugen, lasten die beiden alles mir an. Für einen Menschen mitmeinem Loyalitätsgefühl eine größere Last als dieser Gefängnisaufenthalt – das können Sie mir glauben.«
Lamartine überhörte den larmoyanten Ton, Stieber war niemandem gegenüber loyal – er hielt zu denen, die Macht hatten. Deshalb
bewunderte er auch Bismarck.
»Wie lautet die Anklage?« fragte Lamartine.
»Gesetzwidrige Freiheitsberaubung und Mißbrauch meiner Amtsgewalt als Chef der Berliner Kriminalpolizei.«
»Übrigens«, sagte
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