Stiefbruder - Liebe meines Lebens
weiter als ein schmaler Strich. Mein Herz raste, als wäre
ich
es, der sich outete. Ohne nachzudenken legte ich eine Hand zwischen seine Schulterblätter und streichelte seinen Rücken. Jakob war enorm angespannt und ich kam mir schäbig vor, ihn allein in die Bresche springen zu lassen. Aber wir hatten oft darüber geredet und waren zu dem Schluss gekommen, dass wir uns nur nach und nach outen wollten. Erst er, dann – mit angemessenem Abstand – ich. Dass wir ein Paar waren, sollte der letzte Schritt sein und erst erfolgen, wenn unsere Familien verkraftet hatten, dass wir auf Männer standen. Mehr oder weniger sollte unser Coming-Out einer präzise geplanten, jahrelangen Choreografie folgen. Dass sich Jakob schon heute outen würde, war ursprünglich nicht vorgesehen.
„Cool“, gab Claudia von sich, nachdem die Information bei ihr ankommen war. Ich konnte förmlich hören, wie Jakob ein Stein von der Seele purzelte. Der Anflug eines Lächelns schoss über sein Gesicht.
„Und? Hast du derzeit einen Freund?“, bohrte Claudia sofort nach, und erst da erinnerte ich mich an meine verräterische Hand, die noch immer seinen Rücken massierte, und zog sie rasch fort. Claudia war nicht aufgefallen, dass ich sie dahin gelegt hatte um Jakob aufmunternd zu streicheln, mein rascher Rückzug jedoch sprang ihr sofort ins Auge und sie warf mir einen verwunderten Blick zu. Jakob rang mit seiner Antwort, und je näher er ihr kam, umso wilder bearbeitete er den Zahnstocher.
„Ja“, gab er schließlich zu, und musste gegen seinen Willen lächeln. Ich liebte es, wenn sich seine Gefühle über seinen festen Vorsatz, cool zu bleiben, hinwegsetzten. Das Lächeln, das sich auf diese Weise auf seinem Gesicht ausbreitete, ließ mein Herz übergehen vor Glück und ich musste den Impuls massiv zurück drängen, ihn dafür zu küssen. Stattdessen ließ ich mich anstecken und grinste ebenfalls breit. Als er, für den Bruchteil einer Sekunde nur, zu mir sah, gab es mir einen Stich im Bauch, verliebte ich mich glatt schon wieder in ihn. Mir wurde schwindelig und ich musste mich am Tisch festhalten.
„Hey, du bist ja richtig verknallt“, freute sich Claudia, schüttelte ungläubig den Kopf und wiederholte: „Mein Bruder ist bis über beide Ohren in einen Mann verknallt. Süß.“
Sie ließ den Blick durch den Festsaal wandern, als wolle sie herausfinden, ob sonst noch jemand die frohe Botschaft mitbekommen hatte, oder als vermute sie seinen Lover unter den Gästen.
„Und wie ist er so? Kenne ich ihn?“, wollte Claudia nun wissen. Jakob zerbrach einen weiteren Zahnstocher und fischte nach dem nächsten.
„Er ist …
unbeschreiblich!“,
nuschelte mein Liebster. Nervös grapschte ich nach einer Serviette und begann sie mit zittrigen Fingern zu zerpflücken. Claudia wollte mehr wissen, und da ihr Bruder sich bis auf weiteres bedeckt hielt, wandte sie sich an mich.
„Kennst du ihn, Clemens?“, fragte sie.
„Ich, ähm, ich … ah … ja, nein …“
Verdammt! Für solche Situationen war ich nicht geschaffen. Vermutlich ging ich gerade mal wieder als Maskottchen für Ketchup durch.
„Na du wirst ihn doch mal gesehen haben, ihr wohnt schließlich zusammen“, gab Claudia belustigt von sich und warf einen amüsierten Blick auf den Zahnstocherfriedhof, den Jakob mittlerweile angelegt hatte.
Plötzlich sackte ihr Grinsen weg, ihre Wangen wurden schmal, ihre Miene gefror, die Augen wurden groß. Von einer zur nächsten Sekunde schwand die Farbe aus ihrem Gesicht und sie starrte auf unsere Hände. Da ich seitlich an den Tisch gelehnt dasaß, lag meine rechte Hand nur wenige Zentimeter von Jakobs entfernt. Während er einen Zahnstocher nach dem anderen zerbrach, waren meine Finger damit beschäftigt, eine Serviette zu atomisieren. Vermutlich war es aber nicht das, was Claudia so irritierte, sondern die identischen, silbernen Ringe.
Man konnte regelrecht sehen, wie sie Szene um Szene, Bild um Bild, Erinnerung um Erinnerung vor ihrem geistigen Auge abspulte, neu verknüpfte und bewertete, einordnete, schichtete, prüfte. Sie schüttelte dabei immer wieder den Kopf, zuckte mit dem Mund oder kniff die Augen zusammen, als wolle sie sich klar machen, dass nicht sein konnte, was sie eben vermutete.
Ich wusste nicht ob Jakob bemerkte, was seine Schwester eben erkannte, er war konzentriert dabei einen Zahnstocher nach dem anderen zu zerbrechen, immer effizienter, fast schon im Akkord. Meine Serviette war kaum mehr, als ein kleiner Berg
Weitere Kostenlose Bücher