Stiefkinder der Sonne
Greville mit Liz in dem Auto saß und sich die mitgenommenen Umrisse der Waterloo-Brücke ansah – ein Bogen war aus unbekannten Gründen fast völlig zerstört, und darunter lagen Wracks von kleinen Schiffen und einigen größeren Vergnügungsschiffen –, erinnerte er sich an die feste Überzeugung Rowleys, er werde in die Unsterblichkeit eingehen. Sie transit gloria mundi … So geht die Welt unter, nicht mit einem Schlag, sondern mit einem Wimmern.
„Du bist ja Meilen weit weg“, sagte Liz. „Wo zum Teufel bist du?“
Er schreckte auf und sah sie an. Er bemerkte, daß sie zu Ende gegessen hatte. Auch ihre Flasche Bier hatte sie ausgetrunken.
„Tut mir leid“, sagte Greville. Er hob sich seine eigene Flasche an den Mund und trank dankbar. Plötzlich fühlte er sich sehr durstig. „Möchtest du noch eine Flasche? Hinten im Auto steht ein Kasten.“
„Nein, danke … Woran hast du gedacht? Hast du dir überlegt, was du mit mir machst?“
„Nein. Dieses Problem wenigstens ist gelöst. Ich nehme dich mit nach Norfolk. Wenn du dich beliebt machst, lasse ich dich vielleicht sogar irgendwann mal laufen, damit du hinter deiner Schwester Jane herjagen kannst.“
„Und wenn ich mich nicht beliebt mache?“
„Dann werfe ich dich vielleicht wieder den Hunden vor.“
„Na ja“, sagte Liz gutgelaunt und rätselhaft, „solange man noch eine Wahl hat, ist das Leben nicht ohne Interesse … Also, worüber hast du nachgedacht? Du hast irgendwie traurig dreingeschaut, als wärest du ganz weit weg.“
„Über Augustus Rowley“, sagte er, „und Unsterblichkeit.“
Dann erzählte er ihr von dem Haus auf der Insel und von Augustus Rowleys Grab und dem kleinen, geisterhaften Dörfchen Ambergreave.
„Hört sich gut an“, meinte Liz unverbindlich, als er fertig war, „und Norfolk liegt auf dem Weg nach Lancashire. Ich bin also vielleicht gar nicht so schlecht dran.“
„Vor einer Stunde warst du noch erheblich schlechter dran“, erinnerte sie Greville. „Du solltest also nicht zuviel als selbstverständlich hinnehmen.“
„Wann fahren wir zurück?“ fragte sie.
„Heute. Jetzt, eigentlich.“
„Ich dachte, du wolltest noch plündern.“
Er deutete auf den Haufen von durcheinandergewürfelten Gegenständen hinten in seinem Auto. „Ich habe gestern schon einiges erwischt. Ich habe genug, um damit durchzukommen.“
„Ach so.“ Sie schien enttäuscht zu sein.
„Was ist los?“
„Ich wollte mir noch ein bißchen von London ansehen. Als ich das letzte Mal hier war, war ich kaum mehr als ein Kind.“
„Da gibt es nicht viel zu sehen“, sagte er ohne Betonung. „Nichts als Tod und Zerstörung, Hunde, Ratten und eine Million zerbrochener Fensterscheiben.“
„Wenn wir uns noch ein bißchen umsehen, findest du vielleicht noch etwas, das du brauchst“, sagte Liz voller Hoffnung.
Greville lächelte. Sie war so unternehmungslustig und rührend wie ein Kind, das versucht, einen Erwachsenen zu einem Ausflug zu überreden.
„Na gut“, kapitulierte er. „Ich gebe dir zwei Stunden. Dann geht’s aber zurück nach Norfolk. Ich kann es nicht riskieren, in der Nacht zu fahren.“
„Greville, du bist ein Transie, wie er mir gefällt“, sagte sie freudestrahlend. „Und wenn du irgendwann mal Lust haben solltest, gut zu vögeln …“ Sie verzog das Gesicht, „… ich meine, wenn du einmal Lust auf fleischliche Ablenkung haben solltest, brauchst du es nur zu sagen.“
Er lachte. „Wo willst du denn zuerst hin?“
„Zur Festival Hall. Vor ungefähr zehn Jahrhunderten war ich da einmal auf einem Konzert – ein Klaviervortrag von einem Ungarn namens Georgie Sniffles oder so ähnlich. Er war phantastisch. Ich habe mich immer wieder daran erinnert.“
„Die Waterloo-Brücke sieht nicht sehr vertrauenerweckend aus“, erinnerte sie Greville.
„Gibt es sonst keine Brücken?“
Er ließ den Motor an, wendete und fuhr zurück zur Westminster-Brücke. Kurz darauf, nachdem er wegen einiger blockierter Straßen einige Umwege fahren mußte, hielt er vor der Festival Hall an. Liz sprang froh aus dem Auto.
„Vorsicht“, warnte er.
„Es kann sein, daß dort drinnen ganze Hundertschaften von Tieren lauern.“
„Unsinn“, sagte Liz. „Hier gibt es nichts zu fressen, abgesehen vielleicht von einem Zentner Notenblätter.“
Trotzdem lud Greville sein Schrotgewehr und suchte hinten in dem Wagen herum, bis er ein kleineres einläufiges Schrotgewehr gefunden hatte, das er Liz zusammen mit einer
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