Stiefkinder der Sonne
gekannt hatten, sie so tief berühren konnte. Er konnte es nicht verstehen, daß ein unsichtbarer Wächter vor allen vertrauten Fluchtwegen stand.
„Liebe jemanden“, hatte ihn der sterbende Francis ermahnt. „Bau etwas auf.“
Also, jemand zum Lieben war da – obwohl die Liebe selbst ein äußerst schmerzhafter Luxus war. Was aber konnte er aufbauen? Was konnte er schaffen in einer Welt, die im Sterben lag, die all ihre Illusionen von Größe dem Gesetz des Dschungels opferte?
Man konnte nichts bauen als eine Pyramide aus Erinnerungen – an die Pracht der Supermärkte, die gelackte Herrlichkeit der Konsumtempel. In seiner leeren physischen Potenz wurde Greville von dem Wissen um seine geistige Impotenz niedergedrückt. Und dieser Druck war ansteckend.
Die Alpträume, die Liz bedrückt hatten, kamen mit gesteigerter Intensität zurück. Jane war ein weiterer Geist, der die bunte versunkene Welt der Dunkelheit bewohnte. Jane war Liz, und Liz war Jane; und zusammen ertrugen die beiden die Schrecken der Dämmerung in einem Haus der Nacht, des Wahnsinns, in dem Lust und Grausamkeit die einzigen Anzeichen für eine menschliche Gesellschaft waren.
Eines Morgens konnte Liz es nicht mehr aushalten. Sie stellte Greville sein Frühstück hin und hielt ihm dann eine geladene Pistole unter die Nase.
„Ich gehe weg“, sagte sie ruhig. „Du kannst mitkommen, aber du kannst mich nicht aufhalten. Wenn du denkst, daß du mir den Gefallen tun kannst und mitkommst, um mich bei der ersten Gelegenheit wieder zurückzubringen, dann wird dir das wahrscheinlich gelingen, aber dann muß ich dich umbringen und wieder weggehen … Ich hab’s schon einmal versucht. Du hast mich aufgehalten, und ich war froh darüber, daß du mich aufgehalten hast. Dieses Mal aber nicht.“ Ihre Stimme stockte ein wenig. „Dieses Mal meine ich es ernst.“
Greville sah auf die Pistole und aß dann ohne Hast sein Frühstück zu Ende. Liz hatte sich zu einer recht passablen Köchin entwickelt.
Der „Schinken“ schmeckte wie echter Schinken, und die Eier von den frei umherlaufenden Hühnern schmeckten besser als irgendein Ei, das er je in einem Laden gekauft hatte.
Er versuchte nachzudenken, während er sein Frühstück verzehrte; aber all seine normalen Gedankenbahnen schienen vernagelt zu sein.
Widerwillig legte er Messer und Gabel hin und widmete Liz seine Aufmerksamkeit.
Ich könnte höchstwahrscheinlich den Tisch umtreten und ihr die Pistole abnehmen, dachte er. Sie wäre zum Schießen zu überrascht.
Er trat jedoch den Tisch nicht um, noch versuchte er, irgend etwas anderes zu tun. Liz machte ihn traurig. Die plötzliche unausweichliche Erkenntnis, daß seine kleine Insel nicht mehr groß genug war, machte ihn traurig.
„Jane?“ fragte er ruhig.
„Jane“, bestätigte ihm Liz.
„Wie lange sind wir schon zusammen? Es kommt mir wie eine recht lange Zeit vor.“
Liz dachte einen Augenblick lang nach. „Drei Monate, schätze ich … Man verliert den Überblick.“
„Vier Monate“, verbesserte sie Greville.
„Vier Monate und ungefähr zwei Wochen. Wie die Dinge augenblicklich stehen, ist das praktisch ein Leben lang.“
„Es ist vorbei“, sagte Liz hart. „Es war schön, aber es ist vorbei. Ich gehe Jane suchen. Ich hätte schon vor langer Zeit gehen sollen. Du hättest mich nicht aufhalten sollen. So hätten wir uns an das Glück erinnern können.“
„Ich liebe dich“, sagte Greville. „Bedeutet das etwas?“
„Ja.“ Sie zögerte. „Aber nicht genug.“
„Ich habe dich vor den Hunden gerettet.“
„Darüber freue ich mich auch.“ Sie lächelte verschmitzt. „Dich selbst hast du aber auch gerettet, nicht wahr?“
„Vor den Hunden?“
„Nein. Vor dem Tod … Es hat keinen Zweck. Ich habe mich entschlossen. Ich muß Jane finden, oder ich finde keine Ruhe.“
Greville sah sie düster an. „Jetzt will ich dir mal was sagen. Ich bin nicht sicher, ob ich an Jane glaube.“
Liz schloß ihre Hand fester um die Pistole. Ihr Knöchel schien weiß durch, wo ihr Finger den ersten Druck auf den Abzug ausübte. „Was meinst du damit, verdammt noch mal?“
„Ich bin nicht sicher, ob ich an Jane glaube“, wiederholte Greville ruhig. „Meiner Meinung nach könnte sie auch gut eine Ausgeburt deiner verzerrten Einbildung sein. Ich glaube, sie ist vielleicht nichts weiter als eine Entschuldigung für dich, damit du das tun kannst, was dir gerade in deinen Transie-Sinn kommt. Ich glaube, sie ist vielleicht nichts als
Weitere Kostenlose Bücher