Still und starr ruht der Tod
es war, immer wieder die gleichen Argumente zu wälzen. Die Grübelei hielt sie beschäftigt, aber sie führte sie nirgendwo hin. Es gab keine Erklärung, keine plötzliche Eingebung. Rita war weg. Sie hatte entweder einen Unfall gehabt, obwohl die Detektivin das für unwahrscheinlich hielt, oder sie war freiwillig verschwunden und legte keinen Wert darauf, gefunden zu werden. Wenn Ersteres zutraf, war das tragisch. Wenn Letzteres stimmte … Simone kam nicht weiter. Natalie sagte ihr immer wieder, sie solle sich mit den Tatsachen abfinden; sie bezog das auf die neue Freundin ihres Vaters. Natalie in ihrer Jugend schien den Bruch ihrer Eltern nicht allzu schwer zu nehmen. An dem, was geschehen war, konnte niemand mehr etwas ändern, fand das Mädchen. Simone fiel solche Indifferenz schwer.
Natalie. Ihre Tochter verbrachte den Freitagabend in Paris. Wehmütig stellte Simone sich vor, wie sie gemeinsam irgendwo hingehen würden. In eines der vielen Theater oder Kinos. Wie sie zuvor irgendwo eine Crêpe oder einen Salat essen würden. Wie sie nach der Vorstellung Arm in Arm durch die Stadt spazieren würden, vielleicht an der Seine entlang. Simone hatte nie in Paris gelebt, sie hatte das menschlichere, sonnigere Südfrankreich instinktiv vorgezogen. Aber jetzt tat ihr die verpasste Chance mit einem Mal leid.
Natalie jedenfalls machte keine Anstalten, ihre Mutter auf ihren Erkundungsgängen durch Paris dabeihaben zu wollen. Vielleicht ergab sich das noch. Wenn Natalie nicht denselben Fehler macht, wie ich, dachte Simone hart. Sich zu früh an einen Mann zu binden und für ein Kleinkind sorgen zu müssen.
Sie stand auf und trat ans Fenster. Draußen fiel Schnee. Sie presste ihre schmerzende Stirn an die kühle Scheibe.
Sie könnte Natalie anrufen. Gleich jetzt. Entschlossen stellte Simone ihr Glas ab und griff nach ihrem Handy. Sie hatte es immer in Reichweite. Entweder in der Handtasche oder hier auf dem Tisch. Sie sah Ritas spöttisch verzogene Lippen vor sich. Rita verstand das eben nicht. Wie es war, eine enge Bindung zu einem anderen Menschen zu haben. Eine Bindung, die immer da war, immer zugegen, immer spürbar. Simone hatte eine solche Verbindung auch zu Jean-Claude gespürt, seit Beginn ihrer Beziehung. Die Art, wie er diesen Faden mit seiner Affäre abrupt durchschnitten hatte, hatte das Gefühl von Zusammengehörigkeit mit einem einzigen Satz erschüttert. ›Ich liebe eine andere.‹ Doch selbst dieser Vertrauensbruch vermochte die bestehende Bindung nicht sofort zu trennen. Sie kannte Jean-Claude viel zu gut und er kannte sie. Sie hatten einander in ihren finstersten und glücklichsten Stunden begleitet.
Die Vergangenheit ist nicht auslöschbar, dachte Simone, während sie Natalies Nummer wählte. Das war beruhigend. Und auch beängstigend. Was einmal gewesen war, stellte einen Bestandteil des eigenen Lebens dar. Es stimmte, jeder Mensch musste die Tatsachen hinnehmen.
Natalie nahm nicht ab. Es schaltete sich auch keine Mailbox an. Seufzend legte Simone das Handy weg. Sie würde ihrer Tochter eine Mail schreiben. Das war weniger aufdringlich als ein Telefonanruf. Simone spürte das dringende Bedürfnis, Natalie von Ritas Verschwinden zu berichten. Sie brauchte einfach die Meinung einer Vertrauten.
Sie klemmte sich hinter Ritas Laptop, der auf dem kleinen Sekretär stand, und schaltete ihn ein. Das Passwort hatte Rita selbst ihr verraten, als Simone gleich zu Beginn ihres Aufenthaltes ihre Mails lesen wollte. Der Rechner baute die Internetverbindung auf. Simone loggte sich bei Caramail ein und begann, ihre Mail zu schreiben.
Aber sie hing fest. Schriftlich zu formulieren, dass Rita weg war, führte ihr erst vor Augen, wie dramatisch ihre eigene Situation war. Würde man sie am Ende verdächtigen, irgendetwas mit Ritas Abtauchen zu tun zu haben? Was, wenn man Rita tot irgendwo fand und nicht eindeutig von einem Unfall die Rede war?
Die Kopfschmerzen verstärkten sich. Simone ließ die Hände auf die Tastatur sinken. Schließlich klickte sie auf ›Logout‹. Bevor sie den Rechner herunterfahren konnte, sah sie einen Ordner auf dem Desktop liegen, der beim letzten Mal, als sie Ritas Laptop benutzt hatte, nicht dagewesen war. Eindeutig nicht. Nur ein paar Programmicons hatten da gelegen.
Der Ordner trug den Namen LFZ.
Samstag, 15.12.
11
Als Simone Mathieu am nächsten Tag gegen 15 Uhr zu Katinka in die Detektei kam, schneite es wieder.
»Haben Sie etwas herausgefunden?« Simone wischte
Weitere Kostenlose Bücher