Still und starr ruht der Tod
innerhalb der Gruppe provozieren wollte.«
Dante spitzte die Lippen. »Könnte sie vorgehabt haben. Aber warum?« Sofort gab er sich selbst die Antwort. »Weil sie die Konstellation ins Wanken bringen wollte. Weil es irgendwelche festgefahrenen Dinge gab, die sie nicht mehr ertragen konnte.«
»Mag sein. Aber ihr muss doch klar gewesen sein: Wenn ihre Freunde das lesen, ist es aus und vorbei mit der Freundschaft.«
»Falls sie überhaupt Freunde sind«, gab Dante zu bedenken.
»Eben. Anscheinend sind sie keine, denn die Texte sprechen eine andere Sprache.«
»Kennen Sie den Film ›Mord im Orient-Express‹?« Dante legte den Kopf schief.
»Klar. Der Zug blieb im Schnee stecken, keiner konnte raus. Einer der Passagiere in Poirots Waggon musste der Mörder sein.«
»Das war die Schlussfolgerung. Aber sie war fehlerhaft. Nicht einer war der Mörder, sondern alle.«
Katinka nickte. »Stimmt. Sie alle hatten eine Rechnung mit dem Opfer offen.«
»Das Opfer war ein übler Gangster, der ein Kind entführte, das Lösegeld kassierte und das Kind dennoch sterben ließ. Das Motiv für den Mord: Rache.«
»In unserem Fall haben wir keine Toten, die ein Kind entführt haben. Zumindest weist nichts darauf hin. Wir haben auch keinen in Jugoslawien festsitzenden Zug!«
»Nein, unsere Gruppe ist verstreut. In alle oberfränkischen Winde! Zudem ist Jugoslawien Vergangenheit.« Dante rührte in seiner Tasse. »Das Setting ist also genau umgekehrt. Im Vergleich zu Sidney Lumets Film, meine ich.«
»Also nur ein Mörder? Kommen Sie, Wischnewski. Das ist keine Parallele mehr. Das ist reine Fantasie! Außerdem wissen wir gar nicht sicher, ob Ivo Leistner wirklich ermordet wurde. Vielleicht war es einfach ein Unfall.«
»Immerhin hätten wir so eine These zurechtgeschnitzt, in der der Freundeskreis kein Freundeskreis ist, sondern eine Zweckgemeinschaft. Die zusammenhält, obwohl die Leute sich nicht grün sind.«
»Die Frage ist dann jedoch, was diese Gruppe stattdessen zusammenhält, wenn es nicht um Freundschaft und Vertrauen geht.«
» Ich beschäftige mich gerade mit Verschwörungstheorien«, fuhr Dante feierlich fort. »Ich habe vor, im Selbstverlag ein kleines Büchlein herauszubringen.«
»Och, Wischnewski! Sind Sie deshalb aus den USA rausgeschmissen worden?«
»Ich bin aus freien Stücken gegangen«, erwiderte Dante würdevoll.
»Verschwörungstheorien! Mannomann! Die sind so was von out! 9/11 ist längst abgehakt.«
»Stimmt, die Terroristen sitzen inzwischen in den Regierungen und tragen Anzüge statt Bart und Turban.«
Katinka stöhnte leise auf.
»Wenn ich aus meinen Studien eine Erkenntnis gewonnen habe, dann die, dass es immer Absprachen gibt«, sinnierte Dante. »Egal wobei. Eine komplexe Handlung basiert auf Kommunikation. Absprachen werden gern geheim gehalten; sie sind dennoch das Angreifbarste.«
Missmutig setzte Katinka frischen Kaffee auf. »Ich kapiere nichts.«
»Ich forsche nicht über den 11. September. Mich interessiert vielmehr, welche Strukturen vorhanden sein müssen, damit eine Information in die Welt gesetzt werden kann und das gewünschte Massengruseln auslöst.«
»Sie forschen nach den Voraussetzungen für erfolgreiche Hinterzimmerpolitik?«
»Genau.«
Die Kaffeemaschine gluckerte.
»Dante, es ist doch so: Wenn es einen Mörder aus dem Kreis der Literaturcracks gibt, dann eben nur einen, und dieser eine trifft mit niemandem Absprachen.«
Listig blinzelnd entgegnete Dante: »Nein, das sicher nicht. Aber der Zirkel kann vorher eine Absprache getroffen haben. Zum Nachteil einer einzigen Person, die dadurch zum Mörder wurde.«
29
Dick eingemummelt machte Katinka sich auf den Weg in ihr Büro. Die Stadt schien wie verzaubert. Unter einem stahlblauen Himmel hatten die Fußgänger sichtlich ihre Freude daran, die Fahrbahnen für sich zu nutzen. Autos waren kaum unterwegs. Ein Taxi rollte langsam den Kaulberg hinunter. Katinka sah, dass Schneeketten über die Reifen gezogen waren.
Da so gut wie kein Verkehr herrschte, hatte der Schnee seine strahlende Weiße bewahrt und glitzerte mit dem Fluss um die Wette. Ein paar Eisenbereifte saßen, in Decken gekuschelt, mit dampfenden Espressotassen vor dem Café am Kranen und blinzelten in die Sonne.
In der Hasengasse wartete Simone Mathieu. Sie sah grau im Gesicht aus.
»Ich habe meinen Flug auf heute Abend umgebucht. Ob wirklich ein Flieger geht, wird sich erst später zeigen«, berichtete sie. »Frau Palfy, ich würde
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