Stille Nacht
während er sich umschaute. Keine Cops in
Sicht. Selbst wenn sie Callys Wohnung bereits überwachten, so
wußten sie vermutlich nicht, daß ma n durch den mit Brettern
verrammelten Müllabladeplatz dorthin gelangen konnte. Als er
sich aufrichtete, fluchte er. Der verdammte Aufkleber auf der
Stoßstange. Zu auffällig. WIR HAUEN DIE ERBSCHAFT
UNSERER ENKEL AUF DEN KOPF. Er schaffte es, den
Aufkleber weitgehend abzukriegen.
Fünfzehn Minuten später hatte Jimmy das lächerliche Schloß
von Callys Wohnung geknackt und war drinnen. Was für eine
Absteige, dachte er, als er die Risse an der Decke und das
abgenutzte Linoleum in dem winzigen Flur am Eingang
musterte. Aber sauber. Cally war schon immer ordentlich
gewesen. Unter einem Christbaum in der Ecke eines Raums, der
als Wohnzimmer herhalten mußte, lagen ein paar kleine, bunt
verpackte Geschenke.
Jimmy zuckte die Achseln und ging ins Schlafzimmer, wo er
den Einbauschrank nach den Kleidungsstücken durchwühlte,
von deren Vorhandensein er überzeugt war. Nachdem er sich
umgezogen hatte, durchsuchte er die ganze Wohnung nach
Geld, fand aber keins. Er riß die Türen auf, die den Herd, den
Kühlschrank und das Spülbecken vom Wohnbereich abtrennten,
suchte ohne Erfolg nach einem Bier, gab sich mit einer Pepsi
zufrieden und machte sich ein Sandwich.
Demzufolge, was seine Quellen ihm zugetragen hatten, hätte
Cally mittlerweile von ihrem Job im Krankenhaus zurück sein
müssen. Er wußte, daß sie Gigi unterwegs von der Babysitterin
abholte. Äußerst nervös, die Augen unverwandt auf die
Wohnungstür gerichtet, saß er auf dem Sofa. Die meisten der
wenigen Dollars aus den Taschen des Gefängniswärters hatte er
für ein paar Happen zum Essen ausgegeben. Er mußte unbedingt
Geld für die Straßengebühren auftreiben, außerdem genug für
eine weitere Tankfüllung Benzin. Komm schon, Cally, dachte
er, wo zum Teufel steckst du nur?
Um zehn vor sechs hörte er, wie der Schlüssel ins Schloß
gesteckt wurde. Er sprang auf, und mit drei langen Schritten war
er am Eingang, preßte sich flach an die Wand. Er wartete ab, bis
Cally hereintrat und die Tür hinter sich schloß, um ihr dann
sofort die Hand auf den Mund zu legen.
»Nicht schreien!« flüsterte er, während er ihr entsetztes
Aufstöhnen mit der Handfläche abdämpfte. »Kapiert?«
Sie nickte mit vor Furcht aufgerissenen Augen.
»Wo ist Gigi? Wieso ist sie nicht bei dir?«
Er lockerte seinen Griff so lange, daß sie atemlos und fast
unhörbar sagen konnte: »Sie ist bei der Babysitterin. Sie behält
sie heute länger da, damit ich einkaufen kann. Jimmy, was machst du hier überhaupt?«
»Wieviel Geld hast du bei dir?«
»Hier, nimm meine Handtasche.« Cally hielt sie ihm hin und
hoffte dabei inständig, er werde nicht auf die Idee kommen, ihre
Manteltaschen zu durchstöbern. O Gott, dachte sie, mach, daß er
verschwindet!
Er nahm die Tasche und warnte in einem tiefen und
drohenden Ton: »Cally, ich laß dich jetzt los. Mach ja keine
Sperenzchen, oder Gigi hat keine Mommy mehr, die auf sie
wartet. Ist das klar?«
»Ja. Ja.«
Cally wartete, bis er seinen Griff um ihren Körper lockerte,
dann drehte sie sich langsam zu ihm hin. Sie hatte ihren Bruder
seit jener schrecklichen Nacht vor nahezu drei Jahren nicht mehr
gesehen, als sie mit Gigi auf dem Arm von ihrer Arbeit bei der
Kindertagesstätte nach Hause kam und ihn in ihrer Wohnung im
West Village vorfand.
Er sieht noch ungefähr genauso aus, dachte sie, außer daß
seine Haare kürzer sind und sein Gesicht schmaler ist. In seinen
Augen war nicht einmal eine Spur der gelegentlichen Wärme zu
finden, die sie einst hatte hoffen lassen, es bestehe doch die
Möglichkeit, daß er sich eines Tages bessern werde. Jetzt nicht
mehr. Es war nichts von dem verängstigten Sechsjährigen
übriggeblieben, der sich damals, als ihre Mutter sie beide
einfach bei Grandma deponierte und auf Nimmerwiedersehen
verschwand, an sie geklammert hatte.
Er machte in einer unbeherrschten Geste ihre Handtasche auf,
kramte darin herum und zog ihr hellgrünes Portemonnaie, eine
Kombination von Brieftasche und Münzgeldbeutel, hervor.
»Achtzehn Dollar«, sagte er verärgert, nachdem er rasch ihr
Geld durchgezählt hatte. »Ist das alles?«
»Jimmy, ich werde übermorgen bezahlt«, sagte Cally
flehentlich. »Bitte nimm’s einfach, und hau wieder ab. Bitte laß
mich in Ruhe.«
Der Tank im Auto ist noch halb voll, überlegte Jimmy.
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