Stille Nacht
seinen Patienten
Zuversicht ein, dachte sie. Ach, Tom, ich möchte dir sagen, daß
unser kleiner Junge verschwunden ist. Ich möchte, daß du
gesund bist und bei mir, damit wir ihn gemeinsam suchen
können.
Tom Dornan schlug die Augen auf. »Hallo, Liebste«, sagte er
schwach.
»Hallo, du.« Sie beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuß.
»Es tut mir leid, daß ich heute nachmittag so weinerlich war. Du
kannst es prämenstruelles Syndrom nennen oder einfach
altmodische Erleichterung.
Du weißt doch, was für eine sentimentale Kuh ich bin. Ich
heule ja sogar bei einem Happy-End.«
Sie richtete sich auf und sah ihm direkt in die Augen. »Du
machst gute Fortschritte. Ganz ehrlich, weißt du.«
Sie konnte sehen, daß er ihr nicht glaubte. Noch nicht, dachte
sie mit Entschlossenheit.
»Ich dachte, du bringst die Kinder heute abend mit?« Seine
Stimme war tief und stockend.
Ihr wurde bewußt, daß sie Tom gegenüber Brians Namen
nicht erwähnen konnte, ohne die Fassung zu verlieren. Statt
dessen erklärte sie rasch: »Ich hatte Angst, daß sie zu wild über
dich herfallen. Ich hab mir gedacht, es wär eine gute Idee, sie bis
morgen vormittag warten zu lassen.«
»Deine Mutter hat angerufen«, sagte Tom schläfrig. »Die
Schwester hat mit ihr geredet. Sie hat gesagt, sie hätte dir ein
besonderes Geschenk für mich mitgegeben. Was ist es denn?«
»Nicht ohne die Jungs. Sie wollen es dir nämlich selbst
geben.«
»Gut. Aber bring sie auch bestimmt morgen früh mit. Ich will
sie sehen.«
»Ganz bestimmt. Aber da wir schon mal allein sind, sollte ich
vielleicht zu dir ins Bett schlüpfen.«
Tom schlug wieder die Augen auf. »Das ist ein Wort.« Ein
Lächeln huschte über seine Lippen. Und dann war er wieder
eingeschlafen.
Eine ganze Weile lang legte sie den Kopf auf das Bett, bevor
sie dann aufstand, als die Krankenschwester auf Zehenspitzen
wieder ins Zimmer kam. »Sieht er nicht phantastisch aus?«
fragte Catherine heiter, während die Schwester Toms Puls
fühlte.
Sie wußte, daß Tom sie womöglich hören konnte, selbst
während er schon wieder einschlummerte. Dann, nach einem
letzten Blick auf ihren Mann, eilte sie aus dem Zimmer, den Flur
hinunter und zu dem Aufzug, anschließend durch die
Eingangshalle und in den wartenden Polizeiwagen.
Der Kriminalbeamte in Zivil beantwortete ihre nicht
ausgesprochene Frage: »Noch nichts Neues, Mrs. Dornan.«
5
Gib’s her, hab ich gesagt«, sagte Jimmy Siddons in drohendem
Tonfall.
Cally versuchte, sich stur zu stellen. »Ich weiß nicht, wovon
dieser Junge überhaupt redet, Jimmy.«
»Doch, das wissen Sie wohl«, warf Brian ein. »Ich hab
gesehen, wie Sie das Portemonnaie von meiner Mom
aufgehoben haben. Und ich bin hinter Ihnen her, weil ich es
zurückhaben muß.«
»Bist du nicht ein schlauer Bengel?« höhnte Siddons. »Immer
hinter der Kohle her.« Seine Miene nahm einen häßlichen
Ausdruck an, als er sich an seine Schwester wandte. »Zwing
mich nicht, dir das Ding abzunehmen, Cally.«
Es war zwecklos, so zu tun, als hätte sie es nicht. Jimmy
wußte, daß der Junge die Wahrheit sagte. Cally hatte noch ihren
Mantel an. Sie gr iff in die Tasche und holte das hübsche
Portemonnaie aus marokkanischem Leder hervor. Schweigend
reichte sie es ihrem Bruder.
»Das gehört meiner Mutter«, sagte Brian herausfordernd. Der
Blick, den ihm der Mann daraufhin zuwarf, jagte ihm einen
Schauer über den Rücken. Er hatte schon Anstalten gemacht,
nach dem Portemonnaie zu greifen; statt dessen vergrub er nun,
mit einemmal verängstigt, die Hände tief in die Hosentaschen.
Jimmy Siddons machte das Portemonnaie auf. »Sieh mal einer
an«, sagte er jetzt voller Bewunderung in der Stimme. »Cally,
du überraschst mich. Du schlägst ja ein paar von den
Taschendieben, die ich kenne, um Längen.«
»Ich hab es nicht gestohlen«, protestierte Cally. »Jemand hat
es fallen lassen, ich hab es gefunden. Ich wollte den Geldbeutel
mit der Post zurückschicken.«
»Also, das kannst du vergessen«, erklärte Jimmy. »Jetzt
gehört er mir, und ich brauch das Ding.«
Er zog ein dickes Bündel Banknoten hervor und begann zu
zählen. »Drei Hunderter, vier Fünfziger, sechs Zwanziger, vier
Zehner, fünf Fünfer, drei Ein-Dollar-Scheine.
Sechshundertachtundachtzig Dollar. Nicht schlecht, im Grunde
paßt das prima.«
Er stopfte sich das Geld in die Tasche der Wildlederjacke, die
er aus dem Schlafzimmerschrank geholt hatte, und begann, die
einzelnen Fäche
Weitere Kostenlose Bücher