Stille Seele (German Edition)
existierenden Gedanken durch seinen Kopf. Jakob hatte keine Ahnung, wie er auf Julie und die Tatsache reagieren sollte, dass dies für sie wahrscheinlich nicht mehr war als ein letzter verzweifelter Versuch, ihn für ihren Dad zum Bleiben zu bewegen, und ab einem bestimmten Punkt war es ihm egal, wieso sie es tat. Sein Körper schrie nach mehr. Seine Zunge schob sich wie von selbst in ihren Mund und fand ihre. Er schmeckte sie, roch ihren Duft und spürte ihre tränennasse Wange unter seinen Fingern. Sie war traurig, es war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, und dennoch war es perfekt. Perfekter als alles zuvor in seinem Leben. Perfekter als jeder bisherige Kuss.
Ihm fehlte die Kraft, sich weiter gegen den Wunsch zu wehren, den er – wenn er ehrlich zu sich selbst war – schon vom ersten Augenblick an gehabt hatte. Er hatte selbst die Angriffe ihrerseits auf ihn auf eine perfide Art genossen, weil es zumindest eine wie auch immer geartete Aufmerksamkeit für ihn bedeutet hatte. Jakob hatte diese unsinnigen Gefühle die ganze Zeit tief in einen verborgenen Winkel seines Inn eren verbannt und das aus einem guten Grund. Du darfst das nicht tun, Idiot! Seine innere Stimme war in jedem Fall zurechnungsfähiger als er. Atemlos schob er Julie ein Stück von sich weg und schloss die Augen. Er musste das beenden, bevor es zu spät sein würde.
„Es tut mir leid!“ Vorsichtig rutschte er ein Stück von ihr ab. „Es geht nicht! Es wäre nicht fair!“ Jakob sah auf und sein Blick traf J ulies. Sie wirkte verstört und er konnte sehen, wie seine Zurückweisung in ihr arbeitete. Seine Gesichtszüge verhärteten sich. „Würdest du mich kennen, würdest du es verstehen.“
„Dann erkläre es mir, verdammt!“
Jakob sah, wie feine Tränen Spuren auf ihrem Gesicht hinterließen. Ihre Lippen zitterten. Er musste das jetzt beenden – für sie und für sich selbst. „Ich werde gehen, Julie. So oder so. Ich kann nicht bleiben. Ich werde dich genauso verlassen, wie Jamie es getan hat und deshalb werde ich gehen, solange es noch nicht zu spät ist. Bevor wir uns in etwas hineinsteigern, was keine Zukunft hat!“
Jakob sah, wie sie zurückzuckte, als er den Verlust ihres Bruders ansprach. Er konnte förmlich spüren, wie ihre alten Wunden wieder aufgerissen wurden und spürte ihren Schmerz durch seinen eigenen Körper zucken. Es tat weh, aber es würde vergehen und es war das Beste, was er Julie von sich geben konnte. Es war sein Abschiedsg eschenk an sie. Es würde leichter für sie sein, wenn sie wütend auf ihn sein konnte.
Ihre Stimme klang brüchig, als sie ihre letzte Karte ausspielte. „Du bist verletzt! Der Doc hat gesagt, dass du noch nicht wieder gesund bist. Du musst ins Krankenhaus!“ Sie klang flehend und besorgt, wä hrend Jakob sah, wie sie ihren Stolz und die Wut hinunterschluckte.
„Ich bin stärker als du denkst. Ich komme zurecht und du würdest mich nur behindern bei dem, was ich tun muss! Ich muss gehen, nur für mich!“
„Das meinst du nicht ernst. Dir liegt etwas an uns. An Stan und Dad! An mir! Du kannst nicht einfach weggehen und so tun, als wäre all das hier nicht passiert! Als wäre das hier gerade nicht passiert!“
„Es ist nichts passiert!“ Seine Worte taten ihm körperlich weh und er sah, dass sie ihre Wirkung bei Julie nicht verfehlten. Er schüttelte den Kopf und zwang sich fortzufahren. „Ihr habt es mir hier nur ein wenig leichter gemacht. Mehr nicht! Ich hatte nie vor, zu bleiben. Ich habe dir gesagt, dass du mich nicht kennst. Kein bisschen, sonst würde dich das hier nicht wundern!“ Damit stand er auf, wandte sich um und verließ steif das Zentrum und nur kurze Zeit später die Stadtgre nze.
6. Januar 2007, Marble Hills, Kanada
Jakobs Finger zitterten, als er sie aus der Jackentasche beförderte. Für einen Moment zögerte er, bevor er sich einen Ruck gab und den messingfarbenen Knopf der Türklingel drückte. Er hatte keine Wahl. Stan war seine einzige Chance. Wieder drückte Jakob den Klinge lknopf. Diesmal etwas länger, und trat vor Kälte schlotternd von einem Bein auf das andere, während sein Atem frostige Wölkchen bildete. Das Gewicht des Matschsacks schnürte in seine Schulter. Unwillig schob Jakob ihn ein Stück weiter hoch. Aus dem Hausflur waren schlurfende Schritte zu hören und Jakob hörte, wie Stan brummelte.
„Komme ja schon.“ Etwas lauter fügte er hinzu: „Wer ist denn da? Ist schon
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