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Stille Tage in Clichy

Titel: Stille Tage in Clichy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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schauderte. Und dann plötzlich entrang sich, unvermittelt wie ein mächtiger Blutsturz, meiner Kehle ein schreckliches Schluchzen. Ich weinte wie ein Kind.
    Ein paar Tage später schlenderte ich durch das jüdische Quartier. Die Straße, die sie mir aufgeschrieben hatte, existierte im Quartier St. Paul nicht - noch sonst irgendwo in Paris. Ich sah im Telefonbuch nach und stellte fest, daß der Name des Hotels mehrmals vorkam, aber keines dieser Hotels lag auch nur in der Nachbarschaft von St. Paul. Ich war nicht erstaunt, nur verblüfft. Ehrlich gestanden, ich hatte nicht mehr viel an sie gedacht, seit ich in jener dunklen Straße vor ihr geflohen war.
    Natürlich hatte ich Carl davon erzählt. Als er die Geschichte hörte, sagte er zwei Dinge, die sich mir einprägten.
    «Du weißt doch wohl, an wen sie dich erinnert hat?»
    Als ich «Nein» sagte, lachte er: «Denk mal nach», meinte er, «es wird dir schon noch einfallen.»
    Die andere Bemerkung war bezeichnend für ihn: «Ich wußte, daß du jemandem begegnen würdest. Ich habe nicht geschlafen, als du fortgegangen bist — ich habe nur so getan. Hätte ich dir gesagt, was dir passieren würde, so hättest du einen anderen Weg eingeschlagen, nur um mich zu widerlegen.»
    An einem Samstag nachmittag ging ich wieder ins jüdische Quartier. Ich wollte zunächst zur place des Vosges, die für mich noch immer einer der schönsten Plätze von Paris ist. Da es jedoch ein Samstag war, wimmelte es hier von spielenden Kindern. Die place des Vosges ist ein Ort, den man nachts aufsuchen muß, wenn man, selbst zur Ruhe gekommen, sich der Einsamkeit erfreuen will. Als Spielplatz war sie nicht gedacht, sondern eher als ein Ort der Erinnerungen, ein stiller Ort, wo man seine Kräfte sammeln kann.

     
    Als ich durch die Arkaden ging, die zum Faubourg St. Antoine führen, kamen mir Carls Worte wieder in den Sinn. Und im gleichen Augenblick erinnerte ich mich, wer es war, dem Mara ähnlich sah. Es war Mara-Saint-Louis, die ich als Christine gekannt hatte. Wir waren eines Abends, bevor wir zum Bahnhof gingen, in einem Wagen hierher gefahren. Sie fuhr nach Kopenhagen, und ich sollte sie nie wiedersehen. Es war ihre Idee gewesen, noch einmal die place des Vosges aufzusuchen. Da sie wußte, daß ich auf meinen einsamen nächtlichen Streifzügen häufig hierherkam, hatte sie beschlossen, mir die Erinnerung an eine letzte Umarmung auf diesem schönen Platz zu hinterlassen, wo sie als Kind gespielt hatte. Nie zuvor hatte sie diesen Platz im Zusammenhang mit ihrer Kindheit erwähnt. Wir hatten immer nur über die lle St. Louis gesprochen. Oft waren wir zu dem Haus gegangen, in dem sie geboren worden war, und oft waren wir nachts auf dem Heimweg von einem Zusammensein über die schmale Insel gewandert, hatten jedesmal einen Augenblick vor dem alten Haus verweilt und zu den Fenstern hinaufgeschaut, an denen sie als Kind gesessen hatte.
    Da vor der Abfahrt des Zuges noch mehr als eine gute Stunde totzuschlagen war, hatten wir den Wagen weggeschickt und saßen auf dem Randstein in der Nähe des alten Torbogens. An jenem bewußten Abend herrschte hier ein ungewöhnlich fröhliches Treiben, die Leute sangen, die Kinder tanzten um die Tische, klatschten in die Hände, stolperten über die Stühle, fielen hin und halfen einander gutmütig wieder auf die Beine. Christine begann für mich zu singen - ein Liedchen, das sie als Kind gelernt hatte. Die Leute erkannten die Melodie und sangen mit. Nie sah sie schöner aus. Ich konnte einfach nicht glauben, daß sie bald im Zug sein und damit für immer aus meinem Leben gleiten würde. Als wir den Platz verließen, waren wir so fröhlich, daß man hätte meinen können, wir gingen auf Hochzeitsreise.
    In der rue des Rosiers, im jüdischen Quartier, blieben wir vor dem Lädchen neben der Synagoge stehen, wo Heringe und saure Gurken verkauft wurden. Das dicke, rotbäckige Mädchen, das mich sonst immer begrüßte, war nicht da. Einmal, als Christine und ich zusammen dort waren, hatte sie erklärt, wir sollten bloß rasch heiraten, sonst würden wir es bereuen.
    «Sie ist schon verheiratet», hatte ich lachend gesagt.
    «Aber nicht mit Ihnen!»
    «Glauben Sie, daß wir glücklich miteinander würden?»
    «Sie werden ohne einander nie glücklich sein. Sie sind füreinander bestimmt. Sie dürfen einander nie verlassen, ganz gleich, was geschieht.»
    Ich wanderte in der Gegend umher, dachte an dieses seltsame Gespräch und fragte mich, was wohl aus Christine

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