Stille Tage in Clichy
stiegen, war sie ganz benommen. Es war ein großes Café, so wie das Marignan, und drinnen spielte ein Orchester. Ich mußte sie überreden, mit hineinzukommen.
Sobald sie ihr Essen bestellt hatte, entschuldigte sie sich und ging die Treppe hinunter, um sich zurechtzumachen. Als sie zurückkam, bemerkte ich zum erstenmal, wie schäbig ihre Kleidung war. Ich bedauerte es, daß ich sie gezwungen hatte, mit in ein so strahlend erleuchtetes Lokal zu kommen. Während sie auf das Kalbskotelett wartete, das sie bestellt hatte, zog sie eine lange Nagelfeile heraus und begann sich die Nägel zu maniküren. Der Lack war an einigen Stellen abgesprungen, was ihren Fingern ein noch häßlicheres Aussehen verlieh. Als die Suppe kam, legte sie die Nagelfeile beiseite und den Kamm daneben. Ich bestrich eine Scheibe Brot mit Butter, und als ich sie ihr reichte, errötete sie, löffelte hastig die Suppe und nahm dann das Brot in Angriff, das sie mit großen Bissen in sich hineinschlang, den Kopf gesenkt, als schäme sie sich ihres Heißhungers. Plötzlich blickte sie auf und sagte, wobei sie impulsiv meine Hand ergriff, mit leiser, vertraulicher Stimme: «Weißt du, Mara vergißt nie. Wie du heute abend mit mir gesprochen hast - das werde ich nie vergessen. Das war mehr, als wenn du mir tausend Francs gegeben hättest. Du, wir haben zwar noch nicht davon gesprochen, aber ... wenn du mit mir kommen willst... ich meine...»
«Sprechen wir jetzt nicht darüber», sagte ich. «Nicht, daß ich nicht mit dir gehen wollte, aber...»
«Ich verstehe», sprudelte sie überschwenglich heraus. «Das ist eine schöne Geste. Ich verstehe dich gut, aber ... wenn duMara sehen willst, jederzeit...» und sie kramte in ihrer Handtasche — «ich meine, daß du mir nie etwas zu geben brauchst. Könntest du mich nicht morgen besuchen? Warum soll ich nicht dich einmal zum Essen einladen?»
Sie suchte noch immer nach einem Stück Papier. Ich riß eine Ecke von der Papierserviette ab. Mit einem Bleistiftstummel schrieb sie in einer großen, krakeligen Handschrift ihren Namen und ihre Adresse darauf. Es war ein polnischer Name. Die Straße war mir unbekannt. «Sie ist im Quartier St-Paul», sagte sie. «Aber komm bitte nicht ins Hotel», fügte sie hinzu. «Ich wohne nur vorübergehend dort.»
Ich las noch einmal den Straßennamen. Das Quartier St-Paul meinte ich zu kennen. Je länger ich darüber nachdachte, desto überzeugter war ich, daß es eine Straße dieses Namens in keinem Pariser Quartier gab. Andererseits kann man aber auch nicht alle Straßennamen kennen.
«Du bist also Polin?»
«Nein, Jüdin. Aber ich bin in Polen geboren . Außerdem ist es gar nicht mein richtiger Name.»
Ich sagte nichts mehr. Das Thema wurde so rasch fallengelassen, wie es aufgekommen war.
Im Verlauf des Essens bemerkte ich gegenüber von uns einen Mann, der uns zu beobachten schien. Ein älterer Franzose, der so tat, als sei er in seine Zeitung vertieft. Hin und wieder jedoch fing ich seinen Blick auf, wenn er über die Zeitung hinweg Mara abschätzend musterte. Er hatte ein freundliches Gesicht und schien wohlhabend zu sein. Ich spürte, daß Mara ihn bereits eintaxiert hatte.
Ich war neugierig, was sie tun würde, wenn ich sie einige Augenblicke allein ließ. Nachdem der Kaffee bestellt war, entschuldigte ich mich und ging hinunter zum lavabo . Als ich zurückkam, konnte ich an der lässigen, ruhigen Art, wie sie ihre Zigarette paffte, erkennen, daß bereits alles arrangiert war. Der Mann war jetzt wirklich in seine Zeitung vertieft. Sie waren anscheinend übereingekommen, daß er warten würde, bis sie fertig mit mir war.
Als der Kellner kam, fragte ich, wieviel Uhr es sei. «Gleich eins», sagte er. «Es ist spät, Mara, ich muß gehen», sagte ich. Sie legte ihre Hand auf meine und blickte mit einem vielsagenden Lächeln zu mir auf. «Du brauchst mir nichts vorzumachen», sagte sie. «Ich weiß, warum du eben hinuntergegangen bist. Wirklich, du bist einfach zu gut, ich weiß nicht, wie ich dir danken soll. Bitte, lauf jetzt nicht fort! Es ist nicht nötig, er wartet schon noch. Ich habe ihn darum gebeten. Komm, ich begleite dich noch ein Stückchen. Ich möchte noch ein bißchen mit dir reden, ehe wir uns trennen, ja?»
Wir gingen schweigend die Straße entlang. «Du bist mir doch nicht böse, oder?» fragte sie und umklammerte meinen Arm.
«Nein, Mara, ich bin nicht böse. Natürlich nicht.»
«Bist du in jemanden verliebt?» fragte sie nach einer
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