Stille Tage in Clichy
halten selten ihr Wort», sagte sie. Mr. Winchell natürlich ausgenommen. Mr. Winchell war anders. «Er hat immer Wort gehalten», sagte sie. «Bis er nach Amerika ging.»
Sie war ehrlich erstaunt über Mr. Winchells Schweigen. Er hatte versprochen, ihr regelmäßig zu schreiben, aber seit über drei Monaten hatte sie noch keine Zeile von ihm erhalten. Sie kramte in ihrer Handtasche und suchte nach seiner Visitenkarte. Vielleicht würde er antworten, wenn ich in einem besseren Englisch einen Brief für sie schriebe. Die Visitenkarte hatte sie offenbar verlegt. Aber sie erinnerte sich genau, daß er in einem New Yorker Sportclub wohnte. Seine Frau wohne auch da, sagte sie. Der garçon kam, und sie bestellte sich noch einen schwarzen Kaffee. Es war schon nach elf Uhr, und ich fragte mich nur, wo wir zu so vorgerückter Stunde noch ein gemütliches, billiges Restaurant, wie es ihr vorschwebte, finden sollten.
Ich mußte noch- immer an Mr. Winchell denken und in was für einem seltsamen Sportclub er wohl seine Zelte aufgeschlagen haben mochte, als ich sie wie aus weiter Ferne sagen hörte: «Du, ich will aber nicht, daß du so viel Geld für mich ausgibst. Ich hoffe, du bist nicht reich. Dein Geld interessiert mich überhaupt nicht. Es tut mir so gut, mit dir zu sprechen. Du weißt nicht, was es bedeutet, wie ein Mensch behandelt zu werden!» Und dann brach es wieder aus ihr hervor: Costa Rica und die anderen Plätze, die Männer, denen sie sich hingegeben hatte, wobei ja nichts Schlimmes gewesen sei, da sie sie ja geliebt habe. Sie würden sie nie vergessen, denn wenn sie sich einem Mann hingebe, dann mit Leib und Seele. Wieder betrachtete sie ihre Hände und lächelte matt und schlang den Pelzstrick fest um ihren Hals.
Gleichgültig, wieviel davon Erfindung war, ihre Gefühle jedenfalls waren ehrlich und echt. Um ihr die Situation ein wenig zu erleichtern, schlug ich - wohl etwas zu abrupt - vor, sie möge doch das Geld annehmen, das ich bei mir hätte, und dann sei es vielleicht das Beste, wenn wir uns gleich hier trennten. Ich wollte ihr damit zu verstehen geben, daß sie mir für so eine Kleinigkeit wie ein Abendessen nichts schuldig sei. Ich deutete an, daß sie vielleicht gern allein sein wollte. Vielleicht sollte sie sich wirklich einen antrinken und sich ausheulen. Ich brachte das so vorsichtig und taktvoll wie möglich hervor.
Aber sie machte nicht die geringsten Anstalten zu gehen. Augenscheinlich kämpfte sie mit sich. Sie hatte völlig vergessen, daß sie fror und hungrig war. Zweifellos hatte sie mich mit einem ihrer früheren Liebhaber identifiziert, einem von denen, denen sie sich mit Leib und Seele hingegeben hatte - und die sie nie vergessen würden, wie sie gesagt hatte.
Die Situation wurde so heikel, daß ich sie bat, Französisch zu sprechen. Ich konnte es nicht ertragen, daß sie mit ihrem grotesken Costa-Rica-Englisch die schönen Zartheiten, die sie von sich gab, verdarb.
«Glaub mir», platzte sie heraus, «bei jedem anderen Mann hätte ich längst aufgehört, Englisch zu sprechen. Es strengt mich an. Aber bei dir strengt es mich gar nicht an. Ich liebe es, Englisch zu sprechen mit jemanden, der wie du Verständnis für mich hat. Manchmal gehe ich mit Männern, die überhaupt nicht mit mir sprechen. Sie wollen gar nichts von mir, von Mara , wissen. Sie interessiert nur mein Körper. Was kann ich schon so einem Mann geben? Fühl mal, wie heiß ich bin... ich glühe.»
Als wir im Taxi zur avenue de Wagram fuhren, schien sie die Orientierung zu verlieren. «Wohin fahren wir denn hier?» fragte sie, als befänden wir uns bereits in einem völlig fremden, entlegenen Stadtteil. «Wieso, wir kommen jetzt auf die avenue de Wagram», sagte ich. «Was ist denn los mit dir?» Verwirrt sah sie sich um, als habe sie noch nie etwas von der avenue de Wagram gehört. Dann, als sie mein erstauntes Gesicht sah, zog sie mich an sich und biß mich in die Lippen. Sie biß zu wie ein Tier. Ich hielt sie fest und steckte ihr die Zunge bis tief in den Hals. Meine Hand lag auf ihrem Knie. Ich streifte ihren Rock hoch und strich mit der Hand über das heiße Fleisch. Wieder biß sie mich, zuerst in die Lippen, dann in den Hals, dann ins Ohr. Plötzlich befreite sie sich aus der Umarmung und sagte: «Mon Dieu, attendez un peu, attendez, je vous en prie.»
Wir waren bereits an dem Lokal vorbei, in das ich sie führen wollte. Ich beugte mich vor und sagte dem Fahrer, er solle umkehren. Als wir aus dem Taxi
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